Gudrun Lerchbaum: Lügenland
Autorin/Autor: Lerchbaum, Gudrun
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
Als Georg Orwell 1948 über das Jahr 1984 schrieb, da hatte er Stalins Staat im Sinn. Weniger wird er wohl daran gedacht haben, dass wenige Jahrzehnte später die kommunistischen Unterdrückungsstaaten Geschichte sind und dafür inmitten der westlichen, demokratischen Welt, der überwunden geglaubte Geist der Populisten, Nationalisten und Faschisten zur Bedrohung unserer Freiheiten werden würde.
Gudrun Lerchbaum schreibt über so ein Szenario: die Nationalisten haben eine Wahl gewonnen und haben in kürzester Zeit ein System eingerichtet, das an das der Jahre 1933-1945 erinnert. Aufrechte Bürger achten darauf, dass keine Gedanken abseits der vom Kanzler vorgegeben Richtlinie aufkommen. Kindergarten und Schule wurden schnell zum Werkzeug der Machthaber zur (Um)Erziehung der neuen Menschen, man kann nie sicher sein, ob Freunde oder Familie nicht doch das so vertrauliche besprochene den Behörden melden.
Im Mittelpunkte der Geschichte, die quer durch Österreich führt, ist die ehemalige Milizionärin Mattea. Konditioniert, dem Kanzler zu folgen, wird sie doch ihren Abschied von der Miliz nehmen. Denn wie es in diesem neuen Österreich sein soll, sieht ihr weitere Lebensweg die Rolle der Ehefrau und Mutter vor. Dass es dazu nicht kommt, daran trägt sie selbst Schuld: ihre Waffe, eine Nachlässigkeit, ein Schuss und ihre Freundin Kati liegt tot im Gras.
Mattea ist eine Mörderin und bald auf der Flucht. Es ist eine Flucht vor denen, in deren Dienst sie noch ein paar Tage zuvor stand.
Das ist jetzt ein bleibendes Problem dieses Romanes: Mattea, die Mördern, wird schrittweise zu Mattea, der Untergrundkämpferin. Die Gute und die Böse in einer Person – ein Widerspruch, der bis zum Schluß des Buches unaufgelöst bleibt.
Abseits davon aber ist „Lügenland“ eine sehr bedrückende Geschichte. Gerade, als ein so sanfter und lieber Präsidentschaftskandidat, unterstützt von einem pöbelnden und schreienden Parteiführer einer viel zu großen Anzahl von Österreicherinnen weis machen konnte, er wäre doch nur ein ganz normaler Demokrat; als in den USA ein Mann zum Präsidenten gewählt wurde, der mit unendlich vielen Lügen eine Wahl gewinnen konnte (wenn auch wenigstens nicht die Mehrheit der Stimmen); als so vielen Staaten Europas die Rechten stärker und stärker werden; wir blicken in die Zeitung, hören die Nachrichten und können diese Aufzählung noch lange fortsetzen.
Natürlich ist „Lügenland“ eine Fiktion, aber ist es unwahrscheinlich, dass es so kommt, sobald eine dieser Parteien die Regierung übernimmt?
Es ist jedenfalls wahrscheinlicher geworden: in den letzten Monaten konnte man beispielsweise sehen, wie in Polen eine nationalistische Regierung, kaum gewählt, begann, den Staat in Windeseile um Jahrzehnte zurück zu bauen. Verschwörungstheorien und religiöser Fundamentalismus zogen in den Alltag ein, so schnell konnte man gar nicht denken.
Und Österreich?
„Lügenland“ ist in Teilen beunruhigend realistisch. Denn das, was Gudrun Lerchbaum als Utopie schreibt, das ist in den „Sozialen Medien“ tägliche Realität. Im Umfeld und gestärkt von den Populisten wird gedroht und beleidigt, werden Geschichten erfunden und erfundene Geschichten verbreitet. Nach jedem Zugewinn der Rechts-Populisten stieg prompt auch die Zahl derer, die Anders-Wählenden die Emigration empfahlen. Eine kleine Gruppe zwar, aber eine, die immer mehr Zulauf erfährt.
Gudrun Lerchbaum beschreibt in ihrem Roman nicht nur den Alltag in diesem „Big Brother-Österreich“, sie beschreibt auch die vielen Absurditäten, mit denen autoritäre Regime zu allen Zeiten und an allen Orten, sich ihre eigene Welt bauten.
Was diesen Roman für mich so viel wirkungsvoller macht, als andere, die ein bedrückendes Zukunftsbild zeichnen?
Der Umstand, dass ich sehr viele der Orte, an die es Mattea verschlägt, kenne.