Buchbesprechung/Rezension:

Lavie Tidhar: Maror

Maror
verfasst am 19.06.2024 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Tidhar, Lavie
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
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Die Anspannung, die von der Story in diesem Buch ausgeht, ist beinahe körperlich spürbar. Eine Anspannung, die vielleicht – das aber wissen nur die Menschen, die dort leben – das ganze Land Israel jeden Tag überzieht.

Zwischen den Religionen, dem organisierten Verbrechen und der Polizei verwischen sich in diesem Roman die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen friedlich und gewalttätig, zwischen Moral und Abschaum.

Der Polizist Avi, über dessen persönlichen Hintergrund wenig zu erfahren ist, lebt an der Grenze zwischen allen diesen Gegensätzen. Die Frage, ob er ein Verbrecher oder ein Hüter des Gesetztes ist, wird sehr konkret beantwortet: Er ist beides zugleich, er ist Teil eines korrupten Polizeiapparates und zugleich Handlanger der Gangster. Dabei ist bei dem, was er tut, überhaupt nicht erkennbar, für welche Seite er gerade arbeitet, denn die unterschieden sich nicht in ihren Methoden und ihrer Brutalität.

Der erste Teil des Buches mit dem Polizisten Avi beschreibt Ereignisse, die im Jahr 2003 stattfinden. Eine Bombenexplosion, die auf einer Straße in Tel Aviv viele Menschenleben kostet: Terroranschlag, Bandenkrieg? 9/11 liegt noch nicht lange zurück, im Irak suchen die Amerikaner nach Saddam Hussein, Frieden in der Region ist etwas, das unerreichbar scheint und mit dem Tod muss man jederzeit rechnen, egal an welchem scheinbar ungefärlichen Ort man sich gerade befindet.

Dann, der nächste Abschnitt, ein Schritt zurück in das Jahr 1974, in das Jahr nach dem Jom-Kippur-Krieg. Der Polizist Eddie und sein Partner Cohen finden die Leiche einer jungen Frau am Strand. Cohen, den man schon aus dem ersten Abschnitt kennt, da ist er, knapp 30 Jahre später, schon Leiter einer Abteilung. Jetzt ist Cohen Constable und noch dabei, sich ein Netzwerk an Verbindungen in alle Richtungen in Milieus aufzubauen.

Eines oder zwei, drei Kapitel ergeben jeweils ganz eigenständige Episoden aus den dreieinhalb Jahrzehnten, von 1973 bis 2008, die das Buch umfasst. Jede für sich eine Kurzstory, die in Summe eine Art von verborgene und auch wenig ruhmreiche Geschichte des Staates Israel ergeben.

Eine Konstante in allen Episoden ist Cohen, der seinen Aufstieg als Polizeikonstabler beginnt und sich beständig in der Rangordnung hinauf arbeitet. Ihm geht es nicht um höchste Positionen, sondern um Einfluss und Verbindungen. So kann er in alle Richtungen Einfluss nehmen, hat so viel wie möglich unter Kontrolle. Doch welche Kontrolle über er tatsächlich aus, welche Rolle spielt er?

Cohen ist so etwas wie eine graue Eminenz im Hintergrund in beiden Welten, der des Rechtes und der des Unrechts. Wenn er in einer Episode einmal keine direkte Rolle spielt, dann ist doch in irgendeiner Weise präsent, er, bei dem so vieles zusammenzulaufen scheint.

Nie ist ganz eindeutig, welcher Seite er zuneigt. Kaltschnäuzig bringt er auch Unschuldige ins Gefängnis oder regelt eine Angelegenheit auch gleich selbst und dann hilft im nächsten Moment einem Menschen in Gefahr. Wie auch immer, ob Menschen dabei sterben, ist völlig ohne Bedeutung, wie im Krieg gegen die äußeren Feinde Israels muss es auch im verborgenen Krieg im Inneren Opfer geben.

Die zentrale Figur des Polizisten Cohen ist außerordentlich präzise charakterisiert: kaltschnäuzig, brutal, gewissenlos, es geht Cohen um nicht anderes als um Cohen. Undurchschaubar, ist er einer der für mein Gefühl beeindruckendsten Roman-Charaktere, über die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Die Anspannung, die schon von Beginn an greifbar ist, bleibt aufrecht bis zum Ende.

Immer wieder trifft man auf Persönlichkeiten der Geschichte des Staates Israel, wie Golda Meir, Menachem Begin, Ofra HJaza, um nur ein paar wenige zu nennen. In Verbindung mit den. Meilensteinen in der kurzen Geschichte des Staates Israels werden auch die fiktiven Storys scheinbar zur Realität. Wie es auch möglich/wahrscheinlich ist, dass Cohens Aktivitäten und das Umfeld, in dem er sich bewegt, zumindest teilweise der Realität Israels entsprechen.

Jahrzehnte der Gewalt führten zu gewalttätigen Menschen auf allen Seiten aller Gräben, die sich tief in die Köpfe der Menschen der Region geprägt haben. Im Buch sind es drei Jahrzehnte rund um die Jahrtausendwende mit Kriegen und Terror; doch wann in der Geschichte Israels jemals nicht gewalttätig, heute in den 2020ern ist es nicht anders als vor zwanzig oder fünfzig Jahren.

Auseinandersetzungen und Hass wischen Juden, Christen und Moslems, zwischen Palästinensern, Israels, Libanesen oder Jordaniern. Überall, woran hinsieht.

Unter der Wahrnehmungsgrenze für die meisten Menschen findet zur selben Zeit, oft mit Beteiligung derselben Protagonisten, noch ein anderer Krieg statt. Der zwischen Verbrecherklans um Einflussbereiche im Rauschgifthandel, im Waffenhandel, beim Glücksspiel. Brutal und skrupellos.

Während die Augen der Welt auf die bekannten Gegner gerichtet sind, teilen sich das organisierte Verbrechen und die korrupten Polizisten, solche wie Cohen, das Land beinahe unbehelligt untereinander auf.

Ist das Israel?

Ein Buch, das mich beeindruckt, es sticht in Bezug auf Inhalt und Struktur aus den Neuerscheinungen des Jahres 2024 hervor. Im Zusammenspiel aller Elemente ergibt das keinen simplen Lesestoff, keinen der üblichen Krimis bzw. Thriller, sondern einen, der durch seine historische Einbettung höchst brisant ist. Dazu erfährt man wirklich realitätsnahe, was diese andauernde Gewalt aus den Menschen macht.

Ein empfehlenswerter Roman, der sich nicht in ein bestimmtes Genre einordnen lässt, dessen Dynamik und Spannung sich aber noch am ehesten als Thriller bezeichnen lässt.




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