Bernhard Aichner: Schnee kommt
Autorin/Autor: Aichner, Bernhard
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
Bevor Bernhard Aichner begann, die phänomenalen Krimis rund um Max Broll, den Totengräber, zu erschaffen, schrieb er ganz „normale“ Romane. Aus dem Jahr 2009 stammt „Schnee kommt“, ein Roman, ein Thriller, ein Buch über Abgründe, über Schmerz, über Hoffnungen, über Beziehungen, über Menschen in extremen Lebenssituationen.
Das Motiv, das Bühnenbild gewissermaßen, ist kein wirklich neues: ein Tunnel, Menschen, die aus irgendeinem Grund darin eingeschlossen sind, es gibt kein (räumliches) Vor und Zurück. Bis hierhin hat Aichner also nichts erfunden (da gibt es ja auch Kinofilme zu so ähnlichen Themen), das muss er aber auch gar nicht. Denn es ist nicht der Rahmen der Handlung, es ist die Handlung selbst, das Innere, in das Aichner alles hineinlegt, was er für ein derartiges Buch braucht – und das ist weit mehr, als normalerweise zu lesen bekommt.
Bernhard Aichner verlangt seinen LeserInnen mehr ab, als in seinen späteren Büchern (in denen er sich augenscheinlich ein wenig dem Kommerz ergeben wird – was aber keineswegs von Nachteil ist!). Ein Vorteil also, wenn man schon einen der beiden Max Broll-Krimis gelesen hat, denn dann weiß man, wo sich sein Schreibstil hin entwickeln wird und findet sich hier leichter zurecht. So, das nur zur Einleitung, jetzt zurück auf die Bühne.
Zuerst: Momentaufnahmen. Die Menschen, die im Schneegestöber in ihren Autos auf den Tunnel zueilen. Menschen und Schicksale. Zuerst die Bergstrasse hinauf, Schneefall setzt ein, langsam bleiben die Flocken auf dem Asphalt liegen. Keine zeitliche Abfolge, man weiß nicht genau, wann eine bestimmte Szene spielt. Viele von Ihnen kommen bei der Mautstation vorbei und der Mann, der dort sitzt und kassiert, sieht in ihre Fahrzeuge und in ihre Gesichter hinein, kann einen Moment lang in ihr Leben eintreten. Könnte er hinter ihre Gesichter sehen, dann würde er feststellen, dass sich da vor ihm, auf dem Weg zum und in den Tunnel, gerade eine Menschengruppe der extremen Schicksale zusammen findet.
Dann: der Beginn des Dramas. Er sitzt da, sein Zuhause nennt er das kleine Mauthäuschen, in einem Moment genießt er noch den beginnenden Schneefall, im nächsten verschwindet er, samt seinem Zuhause unter einem Lastwagen. Schneefahrbahn, die Bremse versagt, das kleine Häuschen wird einfach weg gewischt, ein Mann ist tot. Der Lastwagen verkeilt sich, versperrt die Zufahrt zum Tunnel und der Schneee fällt weiter, wer soll da noch den Berg herauf kommen.
Weiter: Drinnen im Tunnel und draussen im Schneegestöber. Gerade noch sind sie bei dem Mann in der Mautstelle vorbei gekommen, mehrere Fahrzeuge. Dann kommt das erste ins Schleudern, überschlägt sich, wer soll das überleben? Dahinter zwei weitere Fahrzeuge, niemand kann so schnell bremsen, sie rasen ineinander.
Was geschieht in einem solchen Moment mit den Menschen, wie können sie aus ihrem normalen Leben in eine solche Situation wechseln und mit ihr umgehen, woran denken sie, was fühlen sie, was sagen sie?
Die Erzählperspektiven wechseln in einer Folge, so wie die Aneinanderreihung von kurzen Clips. Man erlebt eine Situation aus einer Sicht, aus der Denkweise des einen Menschen und schon ist man weiter gesprungen, in den nächsten Geist, sieht und erlebt alles aus der neuen Sicht, befindet sich an einem anderen Ort, möglicherweise zu einer anderen Zeit.
Es scheint, alle diese kurzen Abrisse führen zu einem gemeinsamen Brennpunkt. Auf dem Weg dorthin offenbaren sich alle Schicksale, Ängste, Wünsche und Sehnsüchte und es gibt so viele unterschiedliche Gründe, warum eine Person gerade jetzt gerade hier ist. Der Blick, den man in die Menschen wirft, ist immer intensiv und oftmals bedrückend. Alles findet man hier, Verzweiflung, Hass, Wut, Freude, Einsamkeit – Schicksale lösen sich von einander und andere finden neu zusammen, alles wird schonungslos erzählt und langsam werden Verbindungen sichtbar, die man zu Beginn nicht ahnen konnte.
Es ist eine Form des atemlosen Lesens, die ich bis jetzt noch nicht allzu oft erlebt habe. Wenn man sich auf die Dramaturgie des Buches und den Rythmus der Sprache einlässt, erlebt man spannungsgeladene Stunden und kann die Bilder sehen, die nur mit Worten erschaffen wurden. Und wird dabei ein Fan des Schriftstellers Bernhard Aichner.