Buchbesprechung/Rezension:

Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin

verfasst am 09.10.2011 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Snyder, Timothy
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Ein Buch aus der Rubrik „Geschichte, die nie in Vergessenheit geraten darf“. Dürfte, das wäre wohl passendere Wort, denn das, was zur Mitte des 20. Jahrhunderts mitten in Europa geschah, das ist für viele schon längst vergessene oder – noch schlimmer – zu vergessende Vergangenheit. Weil es ist nun einmal so: je weniger Menschen leben, diese Zeit selbst miterlebt haben, desto mehr wird sie aus unserem kollektiven Gedächtnis verdrängt.

Umso wichtiger finde ich es, dass auch jetzt, viele Jahrzehnte nach dem Ende der Schreckensherrschaften von Hitler und Stalin, Bücher erscheinen, die gegen ein gänzlichen Versinken der Ereignisse dieser dunklen Zeiten in die Vergessenheit arbeiten. Damit meine ich Bücher wie „Bloodlands“, die sich auf rein wissenschaftlicher Basis mit der Thematik auseinander setzen, dies dabei aber in lesbarer und somit in für eine breite Öffentlichkeit konsumierbarer Form tun.

Denn niemals zuvor gab es eine derart menschenverachtende Despoten wie in der Mitte des 20. Jahrhunderts – niemals möge vergleichbares wieder kommen (und Hitler und Stalin waren da ja wirklich nicht die einzigen). Je mehr darüber geschrieben und gesprochen wird, desto besser können wir ähnliches in der Zukunft verhindern.

Ich erinnere mich, daß ich in meiner Zeit im Gymnasium (in den 1980ern) kaum etwas über die Zeit des Nationalszialismus und schon gar nicht des Stalinismus hörte (Nach einem Beschwerde-Artikel darüber in unserer Schülerzeitung bekam ich dann sogar noch einen Verweis vom Direktor!). Wissen darüber aneignen funktionierte also nur mit eigenem Engagement: Bücher besorgen, darüber lesen, weitere Bücher, usw. Dabei stand für mich die Nazizeit im Mittelpunkt, logisch, da es auch für meine Eltern und Großeltern, für die Geschichte Österreichs eine prägende Zeit gewesen war.  Der Stalinismus fiel bei diesem Selbststudium gewissermaßen durch den Rost, den kannte ich immer nur als Begriff, wusste aber kaum Bescheid über die Hintergründe.

Mein Fazit damals war: ich konnte nicht verstehen, wie eine ganze Welt derart den Boden unter den Füßen verlierten konnte. Es war mir gänzlich unverständlich, wie eine ganze Generation kritik- und gedankenlos, Lemmingen gleich, in den Abgrund zog. Aber: ich war ja nicht dabei gewesen, konnte es daher niemals bis ins Detail verstehen oder nachvollziehen.

Mit Bloodlands ändert sich dieses Wissens-Ungleichgewicht und es kommen viele, wesentliche Aspekt dazu, mit denen man dem Verstehen näher kommt . Timothy Snyder schöpft aus einer immensen Zahl von Quellen und stellt Hitler und Stalin, ihren Terror, ihre Schreckensherrschaften gegenüber. Er stellt die beiden Regime gegenüber und schafft damit ein ebenso klares wie erschreckendens Bild:

10 Millionen Opfer oder 5 Millionen? Juden oder ukrainische Bauern? Gaskammer oder Gulag? Was war noch schrecklicher als das andere? Mit der kühlen Darstellung im Buch, die die Chronologie ebenso wie das Ausmaß und die Folgen umfasst hat Synder wohl die einzig mögliche Form gefunden, in der man dieses Wissen aufnehmen kann. Für die emotionalen Elemente sorgen die Berichte über die Schicksale von einzelnen Menschen.

Wie lange ist das her? 70, 80 Jahr sind vergangen, seit Millionen Menschen in Europa nicht nur Opfer dieser Dikatoren sondern eine unüberschaubare Anzahl auch selbst Täter, treibende Kräfte, mehr oder weniger  fanatische Unterstützer waren.

Die Auflistung der Zahlen, wie viele erschossen wurden, verhungerten, deportiert wurden, wie viele Familien zerstört wurden – es kaum kaum zu ertragen und noch weniger zu begreifen. Über allem Gräuel stehen die Namen Hitler und Stalin aber damit es überhaupt dazu kam, musste erst eine ungeheure Zahl an fanatischen, oftmals korrupten Gefolgsleuten tätig werden. Das ist für mich das noch viel Schrecklichere, wie viele dabei waren und selbst zu Verbrechern wurden (man stelle sich das vor: man geht über die Straße und jeder dritte, vierte, fünfte wäre einer oder eine, der oder die mich auf Befehl des Diktators bedenkenlos umbringen würde). Wie waren solche Exzesse möglich? Wo sind all diese gewalttätigen Menschentypen heute? Gibt es sie nicht mehr oder warten sie nur darauf, wieder von einem neuen Demagogen hervorgeholt zu werden? Dieses Unwissen kann Angst machen!

Dabei konnten beide Diktatoren damals nur voneinander lernen. Was sie wohl auch taten und dabei einander in Nichts nachstanden, was das Begehen von Verbrechen und das Ausdenken neuer Gräuel anbelangt. Ob Nazis oder Stalinisten, letztendlich waren (und sind) sie doch alle gleich: fanatisiert, blind, entmenschlicht. Bereit zu jeder Tat, wenn es nur unter dem Deckmantel irgendeiner Ideologie passiert (Heutzutage sieht man das nicht mehr so eng, da darf es auch sehr gerne einmal eine Religion sein, die als Ausrede für Mord herhalten muss).

Bloodlands ist ein Buch über die Geschichte, das sich aber auch wie ein Roman liest. Die Dichte der Informationen, der Fakten, der Vergleich, der Querverbindungen machte es mir aber unmöglich, das Buch dann auch wie einen Roman zu konsumieren. Ein Kapitel, vielleicht auch nur ein halbes, gelesen. Dann ein wenig Nach-Recherche über erwähnte Ereignisse, die für mich besondern hervor stachen. Dazwischen wieder ein anderes Buch. Dann wieder zurück in die Bloodlands. Ein längerfristiges Projekt also, aber eines, das man sich unbedingt vornehmen sollte.

Ein wenig glaube ich nun zu verstehen, welche Fragen sich die Menschen unter Hitler und Stalin gestellt haben, mit welchem Schicksal sie zu kämpfen hatten, wie groß ihre Verzweiflung und ihr Angst war. Nur ein wenig, denn unsere Zeit ist so weit von alledem entfernt, dass jeder Versuch des gänzlichen Verstehens völlig fehlschlagen muss.

Keinen Versuch unternahm ich allerdings, das Handeln, das Morden, die Gewalt der Machthaber verstehen zu wollen. Timothy Synder liefert einige Hintergrundinformationen darüber, wie die beiden Diktatoren handelten, wie sie zu ihren Entscheidungen kamen, die Millionen den Tod brachten. Und wie sie immer wieder für sich selbst und ihre Gefolgsleute unglaublich wirre (und wahrhaft irrrsinnige) gedankliche Konstrukte schufen, um ihr Handeln zu rechtfertigen. Das kann man einfach nicht verstehen oder nachvollziehen –  ich jedenfalls nicht.

PS: Dieses Buch gehört nach meinem Verständnis in jede Bibliothek, es ist für mich so etwas wie ein neues Standardwerk über jene Zeit.




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