Upton Sinclair: Öl!
Autorin/Autor: Sinclair, Upton
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
Wieviel von der Welt vor hundert Jahren steckt in unserer Gegenwart? Wie haben sich Menschen und ihre Konstrukte, wie haben sich das Leben und seine Umstände weiter entwickelt? Wenn man ein Buch liest, dessen zentrale Inhalte in den 1910ern/1920ern stattfnden, dann stellt sich diese Frage nicht zwangsläufig. Liest man aber ein Epos wie „Öl!“, in dem sich so viel findet, das geradezu unheimlich vertraut und gegenwärtig wirkt, dann drängt sich ein solcher Vergleich auf.
Die Geschichte der Familie Ross beginnt mit den Ereignissen im Jahr 1912. In Südkalifornien wurde ein Ölfeld entdeckt (das ergiebigste der Region, wie man sagte) und J. Arnold Ross, der aufsteigende Ölmagnat, sichert sich mit der ihm eigenen Durchsetzungskraft seinen Claim daran. Immer an der Seite das Vaters („Dad“) sein Sohn Bunny, stets aufmerksam, immer begierig, etwas über das Geschäft des Vaters zu lernen.
Und Dad wiederum setzt alles daran, seinem Sohn so viel wie möglich über das Ölgeschäfts beizubringen; all dieses in seinen Augen nebensächliche Wissen über Geschichte, Kultur und so weiter, das hat zurückzustehen. Bunny allerdings, der zeigt schon als Teenager oft die Ansätze zu einem Leben mit genau diesen Dingen des Lebens, die der Vater so gering schätzt. Die Bewunderung, die der Sohn für den Vater hegt, die aber kann durch nichts erschüttert werden.
Und Bunny gibt sich auch begeistert vom Ölgeschäft, will lernen, ist immer sofort bereits und interessiert, dem Vater bei dessen Arbeit über die Schulter zu blicken. Doch für ihn ist das Ölgeschäft nicht die Erfüllung, die er im Leben sucht.
Während seine Schwester Bertie schon ganz vom elitärem Verhalten einer Millionärstochter geprägt ist und sich mit den einfachen Leute nicht abgeben will, ignoriert Bunny die gesellschaftlichen Grenzen. Er blickt durch die äußere Hülle der Menschen hindurch und nimmt sie mit ihrem Wesen wahr.
Bunny findet seine Freundschaften und seine Leidenschaften in beiden Welten: in Welt der Reichen, die mit Verachtung auf den Rest hinunterblicken, und in der Welt der Armen, die sich ihre Rechte nicht nehmen lassen wollen.
Aufbruch in neue Zeiten
Die Kluft zwischen Reich und Arm beginnt in jener Zeit immer weiter aufzugehen (erst jetzt glauben wir zu wissen, wie weit sie sich öffnen kann) und aus dem Roman über die Familie Ross wird der Roman über die amerikanische Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts.
Es schien keine Grenzen zu geben, das Geld schien für jedermann und jedefrau auf der Strasse zu liegen, man brauchte nur im richtigen Augenblick zuzugreifen (und im Gegensatz zu den vielen heutigen „Immobilien-, Dotcom-, und sonstigen -Blasen“ ging es damals um wirklich, handfeste Werte und nicht nur um Spekulation mit nicht realen Werten) .
Aus dem Glauben an schnellen Reichtum wurde für die meisten dann doch nur ein Abstieg in immer tiefere Armut und immer größere Abhängigkeit. Nur eine Handvoll Menschen, darunter J. Arnold Ross, schaffte es, zu wirklichem und dauerhaftem Reichtum zu kommen.
Upton Sinclair dokumentiert diese Zeit der rasanten Entwicklungen mit kritischer Sicht, mit Distanz zum unbedingten Glauben an die Macht des Geldes – seine Kritik am Kaptialismus ohne Wenn und Aber kann man allen seinen Büchern entnehmen.
Für Sinclair, so viel konnte ich verstehen, ist die Konzentration von (wirtschaftlicher) Macht in der Hand weniger Multis ein Verrat am amerikanischen Traum. Immer mächtiger werdende Trusts bestimmen über das Schicksal der große Masse der Menschen. Großkapital gegen Arbeiterbewegung; Armut gegen unglaublichen Reichtum; das Aufkommen des religiösen Fundamentalismus; wenige Beispiele für viele Konflikte, die damals ihren Ausgang fanden und auch heute nicht gelöst sind.
Ein Dokument der Zeit
Auch wenn schon im Vorwort betont wird, dass die meisten Details frei erfunden sind , so weiß aber doch, dass in diesem Buch ein sehr detailreiches Abbild jener Zeit geschaffen wurde – das Nachwort liefert auch ein paar sehr konkrete Beispiele dafür. „Öl!“ ist eine fiktive Reportage, in der Reales und von der Realität Abgeleitetes miteinander verschmelzen.
Es ist der Beginn des 20. Jahrunderts, als große Vermögen geschaffen wurden und als dieser „Amerikanische Traum“ für viele zur Realität wurde (jedenfalls bis der Schwarze Freitag kam); für viele aber wurde es ein „Amerikanischer Albtraum“, das wird bald offensichtlich.
Darübert schreibt Upton Sinclair und man kann sich alles bildlich vorstellen, hört die Ölpumpen monoton stampfen; spürt, wie der Boden vibriert, wenn das Öl einer neu angebohrten Quelle an die Oberfläche durchbricht; fühlt die Hilflosigkeit, wenn die Korruption über das Recht siegt.
Viele Anspielungen und Details zu Personen und Ereignissen werden wohl nur für die damaligen Zeitgenossen vollständig klar gewesen sein; heute bleibt für uns eine amerikanische Geschichte übrig, mit der man in die Vergangenheit reist, sie miterlebt und danach ein wenig besser versteht, auf welchen gesellschaftlichen Pfeilern die USA der Gegenwart stehen.
Natürlich fühlt man sich beim Lesen auch ein wenig in einen dieser Hollywoodfilme aus den 1950ern/1960ern versetzt, als die großen Familiengeschichten auf der Leinwand erzählt wurden. Als Rock Hudson, Elisabeth Taylor und James Dean ihren Kampf ums Öl ausfochten (auch wenn das eine ganz andere Geschichte ist). Ein wenig von diesem Roman wird man auch bei J.R (warum wohl „John Ross?“) und Bobby Ewing finden.
Und da ist noch der Film There Will Be Blood (mit Daniel Day-Lewis) aus dem Jahr 2007, dessen Drehbuch auf diesem Buch basiert.
Zeitlos
Mehr als 700 Seiten umfasst „Öl!“. Es ist eine sehr weit ausgreifende Geschichte, die aber so leicht zu lesen ist, dass die Lesezeit fast wie im Fluge vergeht. Sieht man von ein paar für die damalige Zeit typischen (technischen) Errungenschaften ab, so hat man das Gefühl, in einem zeitlosen Roman zu sein, der genausogut heute geschrieben werden und dabei genausogut über heutige Zustände berichten könnte.
Natürlich finden sich darin auch Aspekte, die man heute anders beurteilen muss (so wie zB. die meist positive Darstellung der Anfänge des Kommunismus in der Sowjetunion). Doch gerade das macht aus diesem Roman ein Zeitdokument, das einen Ausschnitt aus der Geschichte wieder aufleben lässt. Andere Aspekte wie jener, dass in den Friedensverträgen nach dem 1. Weltkrieg der Keim für kommende Konflikte steckte, erkannte Sinclair mit einer bemerkenswerten Weitsicht, die sich von heutiger historischer Bewertung durch nichts unterscheidet.
Ein Roman, der enorm viele bleibende Eindrücke und die Erkenntnis hinterlässt, dass 100 Jahre noch lange nicht genug Zeit sind, um wirklich entscheidende, tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft aufkommen zu lassen. Ein Roman, der mich wirklich sehr beeindruckt.