Buchbesprechung/Rezension:

Ludwig Winder: Der Thronfolger

verfasst am 11.08.2014 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Winder, Ludwig
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Die Ermordung von Franz Ferdinand, Thronfolger der Donaumonarchie, war der Auslöser der Reihe von unsäglichen Reaktionen der Regierungen und Herrscher der europäischen Mächte, an deren Ende der Beginn des 1. Weltkrieges stand.  Ludwig Winder schildert in seinem Roman die Geschehnisse beginnend mit dem Jahr 1855 bis zu den Schüssen von Sarajewo im Juni 1914.

Dieser Roman ist vieles in einem: ein Gesellschaftsroman und eine Biographie, ein Entwicklungsroman und ein historischer Roman. Die historischen Fakten füllte Winder mit der romanhaften Darstellung des Lebens von Franz Ferdinand, seiner Familie, der Habsburger und der untergehenden Welt der Donaumonarchie.

Alles basiert auf Fakten, aber erst diese literarische Aufbereitung macht sowohl die Person des Thronfolgers als auch die des alten Kaisers greifbar und man versteht, welcher Mensch Franz Ferdinand war und man ahnt, wohin sich die Donaumonarchie mit ihm als Kaiser, als Nachfolger von Franz Joseph, entwickelt hätte.

Ludwig Winder zeigt einen Franz Ferdinand, dessen Persönlichkeit sich aus einer Vielzahl von Eigenschaften – man ist versucht zu sagen: Marotten – zusammensetzt, die allerwenigsten davon einzureihen unter menschenfreundlich oder aufgeschlossen oder positiv. Misstrauen, Zorn und Menschenverachtung sind im Gegenteil seine hervorstechendsten Charakterzüge.

Da ist der gewissenlose Jäger, der auf alles aus dem Tierreich schießt, was ihm vor die Flinte kommt – hunderttausende Tiere wird er im Laufe seines Lebens mordlüstern abgeknallt haben. Da ist der überhebliche Despot, für den die Bedürfnisse der Menschen – seiner zukünftigen Untertanen  –  keinerlei Bedeutung haben, nur seine eigenen Wünsche sind zu respektieren. Dieser Egoismus macht auch vor seiner eigenen Familie nicht Halt, lediglich zu seiner Stiefmutter kann er Zuneigung und Vertrauen entwickeln.

Dann ist da seine nur mühsam unterdrückte Wut über die Entscheidungen des Kaisers, der den Ungarn erweiterte Autonomie gewährte; er, Franz Ferdinand, würde solches unter seiner Herrschaft niemals zulassen. Der Thronfolger ist verunsicherter Mann, der seine Unzulänglichkeiten und seine Unzufriedenheit mit Arroganz zu überspielen sucht und der Mann, der niemals jemanden ‚Freund‘ nennen konnte und wollte. Seine Gegenwart ruft bei den Menschen zumeist Ablehnung und Furcht hervor. Wer ihm einmal widersprach oder nicht nach seinen Vorstellungen handelte, der wusste, dass Franz Ferdinand niemals eine Zurückweisung vergessen würde und nur darauf wartete, einmal Kaiser, rachsüchtig seine Gegner zu vernichten.

Im Licht seiner Abneigung gegen beinahe alle Völker und Bewohner der Monarchie ist Franz Ferdinands Vision von den „Vereinigten Staaten von Österreich-Ungarn“, in die er die Donaumonarchie umwandeln wollte, äußerst bemerkenswert. Während er diese Vision nie aufgab, machte er sich gleichzeitig überall in der Monarchie immer unbeliebter und eine Realisierung unter seiner Führung somit völlig unmöglich. Bemerkenswert ist auch sein Wille, sich gegen die Konventionen der Monarchie durchzusetzen und dabei unerhörte Zugeständnisse zu machen, nur um seine große Liebe, die Gräfin Sophie Chotek zu heiraten.

Ein in Summe sehr zwiespältiger Charakter, der – und das ist jedenfalls gesichert – ein ungeliebter Thronfolger war, dessen Tod letztendlich niemand wirklich betrauerte. Im Gegenteil: recht unverholen nahm man es mit Erleichterung zu Kenntnis, dass dieser Mann nun nicht mehr Kaiser werden konnte. Welche Ironie, das ausgerechnet der Tod eines von der überwiegenden Mehrheit in Adel und Bevölkerung abgelehnten, ja verhassten Mannes der Auslöser für Vorgänge war, die den Untergang der Donaumonarchie herbei führten.

Dieser Roman ist ein Glücksfall in mehrfacher Hinsicht: die Darstellung der historischen Ereignisse und deren Verbindungen untereinander, die es einfach machen, Geschichte zu verstehen; die klare Sprache, die diesen Roman, der immerhin rund 550 Seiten umfasst, zu einem wahren „Pageturner“ macht.

Und es ist ein Glücksfall, dass der Roman, der bei seiner Veröffentlichung im Jahr 1937 schon nicht mehr in Deutschland und Österreich erscheinen durfte weil der Autor ein Jude war, jetzt im Zuge des Gedenkenjahres an den Kriegsausbruch 1914 wieder veröffentlicht wurde.  „Der Thronfolger“ erschien ursprünglich bei einem schweizerischen Verlag und wurde zwar im Jahr 1984 in einem DDR-Verlag wieder-veröffentlicht, zu einer merkbaren Verbreitung im deutschsprachigen Raum führte das aber verständlicherweise nicht.

Ohne diese aktuelle Neuauflage hätte ich vom Schriftsteller Ludwig Winder wahrscheinlich niemals erfahren, so sehr und so gründlich sind seine Spuren in der Literaturwelt verwischt.

„Der Thronfolger“ kann man als Pflichtlektüre für alle bezeichnen, die mehr über die Hintergründe des Niederganges der Donaumonarchie und die Vernichtung der alten Ordnung auf dem europäischen Kontinent wissen möchten.

Es ist Geschichte zum Miterleben und zum Verstehen. Ein Roman, der aus meiner Sicht zu den wirklich großen literarischen Werken des 20. Jahrhunderts zählt.




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