Henry James: Die Europäer
Autorin/Autor: James, Henry
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
Europa und Amerika: eine wechselhafte Beziehung. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sich die Amerikaner zu den Helden (West)Europas entwickelt, mit dem Vietnamkrieg entstanden tiefe Risse in der Freundschaft und nach einer steten Verbesserung folgte mit dem unsäglichen Georg W. Bush – geprägt von gegenseitigem Unverständnis – der Tiefpunkt im transatlanitischen Verhältnis.
Wie aber sah dieses Verhältnis zu einer Zeit aus, als die USA aus der Sicht Euopas zwar ein ferner Kontinent, ein Hoffnungsschimmer für hungernde und verarmte Europäer war, ansonsten jedoch wohl wenig mehr als wilder Kontinent, ohne allzu viel eigene Kultur, ohne eigene Geschichte galt und noch keine Weltmacht war.
Henry James zeigt uns dieses Verhältnis aus der amerkanischen Sicht und macht sich mit seinem Roman zugleich auch zum Chronisten; womit „Die Europäer“ ein aus gleich mehreren Blickwinkeln heiteres und lesenswertes Buch ist: wie die Amerikaner die Europäer sahen; wie die Europäer die Amerikaner sahen; wie das Leben der oberen Gesellschaftsschichten in Neuengland verlief.
Die Baronin, Eugenie Münster, und ihr Bruder Felix treffen zu Besuch bei ihren Verwandten in Boston ein. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ist das ein Zusammentreffen von spartanischer, sittenstrenger Lebensweise und dem, so mögen es die amerikanischen Verwandten wohl zunächst sehen, etwas dekadenten, jedenfalls aber bisweilen schamlosen Lebenswandel der unerwartet eingetroffenen Verwandtschaft.
Eine operettenhafte Handlung spinnt sich um Eugenie, Felix und ihre Cousins und Cousinen. Romantische Gefühle, die sich kreuz und quer entwickeln, sind das Band, an dem das Geschehen voran schreitet. Eugenia, die exotische, die fremdartige, die umworbene kluge Frau – was stets betont wird, so als wären kluge Frauen in jener Zeit kaum zu finden – ist dabei fest verfangen in ihrer Rolle als Baronin. Obwohl sie doch auch deshalb nach Boston kam, um Distanz zwischen sich und ihren Ehemann zu schaffen, der sie aus Familienräson um die Auflösung der Ehe bat, wird sie umworben, bewundert, ohne je ihre wahren Gefühle zu offenbaren.
Die Schilderung des Familienlebens der Wentworths- der amerikanischen Verwandtschaft – wird dabei bisweilen an das Verhalten und die Sitten der Südstaatenaristokratie erinnern, wie man sie beispielweise aus „Vom Winde verweht“ kennt.
Womit sich auch wieder eine Verbindung zur Gegenwart abzeichnet: die oftmals verklemmte Sittenstrenge der Amerikaner (die zB. heutzutage zwar zur Zensur von erotischen Inhalten, unter dem Dach der Meinungsfreiheit aber nur selten zur Unterbindung von Gewaltverherrlichung und Hetze führt).
Ohne eine besonderen literarischen Anspruch zu stellen, ist „Die Euopäer“ doch ein unterhaltsamer und erhellender Roman. Henry James lädt die Leserin / den Leser in das Haus einer gleichermaßen typischen wie klischeehaften Familie ein und lässt uns am täglichen Leben, an den Wünschen, Verwirrungen, Hoffungen und Befürchtungen teilhaben. Er erschafft dabei ein derart plastisches Bild der Menschen und ihrer Lebensumstände, man meint, man wäre wirklich zu Besuch bei den Wentworths in Boston.