Timothy Snyder: Black Earth
Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann
Autorin/Autor: Snyder, Timothy
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
Die widerliche Fratze des Antisemitismus und des Rassenwahns hieß Adolf Hitler. Der war aber weder der Erfinder noch der einzige, der von jüdischer Weltverschwörung und von minderwertigen Rassen phantasierte: all das war ein beinahe über den ganzen Globus verbreiteter Wahn, der von Herrschenden geschürt, von den Massen willig aufgenommen wurde.
Timothy Snyder hat zuletzt mit Bloodlands neben die Verbrechen der Nazis die Verbrechen Stalins gestellt. Ohne das eine in seiner Monstrosität zu reduzieren, beschrieb er in diesem Buch, wie zeitgleich die Gewalt an vielen Orten siegte.
Snyders in „Black Earth“ vorliegende Analyse des Holocaust geht ebenso weit über die übliche Geschichtsschreibung hinaus. Durch die Gegenüberstellung gleichzeitig ablaufender Ereignisse kann der betrachtete Zeitraum tatsächlich in seiner Gesamtheit überblickt werden. Dieser Überblick zeigt gleichzeitige Brennpunkte und deren gegenseitige Beeinflussung und Auswirkung.
Da ist die ins Detail gehende Beschreibung der Motive Hitlers und der Motive der führenden Köpfe Nazideutschlands: was waren die Quellen ihrer wahnwitzigen Vorstellungen, was waren die Strategien zur Umsetzung, wie und wann entstanden die Pläne. Synder führt aus, wie sich der Massenmord an den Juden (und anderen Bevölkerungsgruppen) wie zwangsläufig aus der Geisteswelt der Nazi-Führungsclique ergab. Das ist auch hier und heute noch wahrhaft erschreckend, umso mehr, also solche „Ideologien“ wieder auf dem Vormarsch sind.
Dann die Internationalisierung der „Judenfrage“. Hitler und die Nazis haben, das darf man nicht vergessen, den Antisemitismus nicht erfunden, sondern sind nur für dessen extremste Auswüchse verantwortlich. Die Juden wurden in den Jahrhunderten zuvor und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den meisten Staaten Europas als eine fremdartige, nicht zugehörige Gruppe betrachtet. Pläne und Ideen zur Umsiedlung, wenn möglich an einen weit entfernten Ort (Palästina), Vertreibungen, Pogrome, Morde: das gab es nicht nur in Nazideutschland sondern auch – wenn auch nicht in dieser außerordentlich entmenschlichten Form – u.a. auch in der Sowjetunion, in Polen, in Österreich, …
Populismus mit Feindbildern ist tägliches politisches Geschäft
Sei des der Völkermord in Ruanda, die Verfolgung von Minderheiten in Russland, der Neo-Imperialismus des Wladimir Putin oder das von den Rechtspopulisten aller Welt propagierte Feindbild des „Asylanten“: Rassismus, Anfeindung und Unterdrückung von Minderheiten jeglicher Art sind auf der ganzen Welt auf dem Vormarsch.
Gerade vor wenigen Tagen ist es dem türkischen Präsidenten Erdogan gelungen, die Wähler mit von ihm selbst angezettelten Konflikten zu benebeln und die Wahlen zu gewinnen. Aber auch der unsägliche George W. Bush, der nach rechts abgedriftete Victor Orban, die rechtsextreme Marie Le Pen und viele mehr zündelten und zündeln um mit Hilfe der Angst Macht zu gewinnen oder zu erhalten.
Timothy Snyder zeigt dazu noch weitere mögliche, weltumspannende Krisenherde auf.
Wehret den Anfängen
Eine Grundlage des Buches ist die Analyse der Gedankenwelten und der Strategien Hitlers und seiner Gefolgschaft. Snyder zieht daraus Erkenntnisse und präsentiert Schlussfolgerungen, die es ermöglichen, das Wiederaufkeimen des Faschismus in der bestimmenden Form wie im Deutschland der 1930er und 1940er zu erkennen.
An dem Umstand, dass Faschismus, Nationalismus, Demagogie und Gewalt in der Gesellschaft auf dem Vormarsch sind sind, lässt sich nicht rütteln. Wann aber entwickeln die Rechtspopulisten gemeinsam mit den derzeit meist noch unter dem Schutz des anonymen Internets polemisierenden Extremisten, eine so starke Bewegung, dass wir in Gefahr laufen, in finstere Zeiten zurück zu fallen?
Ein aufwühlendes Geschichtsbuch
„Black Earth“ ist ein Geschichtsbuch, eine mit vielen mir noch unbekannten Details angereicherte Schilderung der Ereignisse im Vorfeld des 2. Weltkrieges und während des Krieges. „Black Earth“ ist zugleich auch ein ungemein fesselnder und erschütternder Roman über Politik, Ideologie, Macht und Wahnsinn, der jedoch leider nicht mit dem Untergang Nazideutschlands endet.
Die in „Black Earth“ niedergeschriebene Geschichte endet nicht, sondern setzt sich vom Ende des 2. Weltkrieges über die Gegenwart bis in die Zukunft fort. Aus den Erfahrungen und Erkenntnissen entwirft Snyder ein Szenario für die Zukunft, fortgeschrieben aus dem, was war und was ist. Dabei sind schon lange nicht mehr nur Juden im Visier von Rassisten, Faschisten und politischen oder religiösen Wirrköpfen.
Die Bilder, die entstehen, haben durchwegs apokalyptische Motive und erschreckende Perspektiven.
Ich habe bisher noch kein derart aufwühlendes Geschichtsbuch gelesen. Die so real wirkende Projektion der Verbrechen der Vergangenheit auf die Gefahren in der Zukunft ist ein Weckruf.
Um es in die so oft gelesene Sprache der sozialen Medien und der Internetforen zu übersetzen: es ist hoch an der Zeit, dass sich die „linkslinken Gutmenschen“ (ein Zitat des FPÖ-Generalsekretärs Kickl und damit quasi eine Ehrung für alle, die er damit abzuwerten glaubt) gegen die Flut der rückwärts gerichteten, offen oder verdeckt rassistischen Bewegungen durchsetzen. Sonst wird die Zukunft nicht lebenswert sein.
Eine Anmerkung zur Wahrscheinlichkeit von Snyders Zukunftsvisionen:
Wie so oft lassen sich aus Geschehnissen der Vergangenheit Parallelen zur Gegenwart ziehen. Im Bürgerkrieg in Russland, der dem Ende des 1. Weltkrieges und der bolschewistischen Revolution folgte, wurden die im europäischen Teil Russlands lebenden Juden von allen Seiten verfolgt. Dies löste eine Massenabwanderung aus, in deren Folge zehntausende nach Westeuropa auswanderten. Nur um dort Opfer des Rassismus und der Vernichtung zu werden.
Wenn nun die Opfer des Krieges in Syrien vor der Gewalt fliehen, so treffen sie in den Ländern, in denen sie Schutz suchen, immer öfter auf dumpfen Rassismus. Die Gewalt beschränkt sich zur Zeit zwar noch auf Brandstiftungen, Hassparolen und Demonstrationen, die zuletzt berschreckend guten Wahlergebnisse der Rechtspopulisten lassen jedoch einen Teil ihrer Anhänger bereits zusehends die letzte Zurückhaltung vergessen; ich befürchte, dass es nur mehr eine Frage der Zeit sit, wann es zu massiveren Gewalttaten kommt.
Eine Anmerkung zur gesellschaftlichen Wirkung eines Buches wie „Black Earth“:
Natürgemäß wird ein solches Buch von Menschen gelesen, die sich bereits davor mit dem Holocaust beschäftigt haben. Eine etwas tiefer gehende (Vor)Kenntnis über die Vorgänge ist für das Verständnis durchaus hilfreich, insoferne ist „Black Earth“ ein Buch für Fortgeschritte, weniger eines für Anfänger.
Woran es in unserer Welt aber tatsächlich mangelt, das sind Bücher (oder sonstige Medien), die den Anfängern, denjenigen, die nichts über jene Zeit wissen oder glauben nichts wissen zu müssen oder nichts wissen wollen, eine leicht fassbaren Einblick verschaffen. Erst damit können auch jene erreicht werden, die heute – vielleicht auch unbewusst – ähnliche Gedanken hegen, wie damals die Initiatoren, die Betreiber und die Mitläufer des Holocaust.