Buchbesprechung/Rezension:

Mark Twain: Reportagen aus dem Reichsrat 1898/1899

verfasst am 18.10.2017 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Twain, Mark
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Über die Habsburger, den Kaiser Franz Josef, die Kaiserin Sisi, über das Attentat in Sarajewo gibt es unzählige Bücher und Reportagen. Wissen über das Parlament – den Reichsrat – ist dem gegenüber für ein breites Publikum weit weniger interessant und und somit wohl nicht sehr verbreitet. Doch es gab ein Abgeordnetenhaus und obwohl die Rolle und der Einfluss dieses Reichsrates in der Monarchie nicht mit jenen des Parlamentes in unserer Republik vergleichbar sind, so wurden auch dort einige Grundlagen für den späteren Zerfall Österreich-Ungarns geschaffen.

Wenn es dann so einen Glücksfall gibt, dass Mark Twain selbst Augenzeuge der Ereignisse im Reichsrat wurde und darüber berichtet, dann wird der Einblick in den Parlamentarimus zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Leseerlebnis und zu einem seltenen Live-Bericht aus der Vergangenheit. Dieses Buch wird von der Parlamentsdirektion heraus gegeben und bietet neben Twains Berichten auch eine ganze Reihe von ergänzenden Texten namhafter Autorinnen und Autoren, die das Gelesene in den richtigen historischen Kontext setzen und einiges überhaupt erst verständlich machen.

„Reportagen aus dem Reichsrat“ ist mehrere Bücher in einem: die englischsprachige Originalausgabe von Twains Reportagen, die deutsche Übersetzung, das Geschichtsbuch über den Parlamentarismus in der Monarchie und letztendlich ein Hörbuch – 2 CDs finden sich im Lieferumfang, auf denen Hermann Beil Twains Reportagen liest.

So komme ich – erstmals überhaupt – dazu, mir ein Buch als Hörbuch vorlesen zu lassen.

Es ist ein ganz spezielles Erlebnis, die Vorgänge im Parlament des Jahres 1879 in den Worten eines Zeitzeugen zu erleben. Bislang mag man zwar aus den offiziellen Protokollen gewusst haben, was gesprochen wurde, jedoch fehlte das ganze Bild. Twains Blick ist zudem ein anderer als jener, den Historiker in der Rückschau auf das Gebilde Österreich-Ungarn werfen. Wenn man, so wie Mark Twain, eben noch nicht weiß, was die kommenden Jahre bringen werden, so ist das nur ganz logisch (so, wie zukünftige Historiker das Jahr 2017 wohl auch anders, in einem größeren Kontext betrachten werden als wir heute). Und genau die Gegenüberstellung der Einschätzungen von gestern (das, was Twain schrieb) und heute (das, was aus später entstandenen Geschichtsbüchern darüber zu erfahren ist) finde ich ungemein spannend.

Es ist richtiggehend fesselnd, diese Einblicke zu lesen (besser: zu hören). Twain berichtete für seine Landsleute in den Vereinigten Staaten, weil diesen die Vorgänge im Reichsrat wohl gänzlich unbekannt waren; so fremd, wie sie uns heute sind.

Twain muss also alles sehr detailliert beschreiben, damit es in seiner Heimat verstanden wird; an Leserinnen und Leser im Jahr 2017 hat er wohl kaum gedacht, jedoch liefert er uns heute, 120 Jahre danach, damit eine äußerst zeitgemäße und aktuelle und lebendige, bildhafte Schilderung. Derart lebendig, dass man keine Fernsehübertragung benötigt, um den Eindruck zu gewinnen, tatsächlich selbst dort im Reichsrat zu sitzen und das oft unverständliche Agieren der Abgeordneten zu beobachten. Twain gelingt es überdies in großartiger Art und Weise, eine stundenlange Sitzung kompakt zusammen zu fassen. Ein Umstand, der sich ihm ganz besonders eingeprägt hat, ist die ungenierte Verwendung von Lügen, Beschimpfung und Handgreiflichkeiten im Umgang mit Abgeordneten anderer Fraktionen.

Würde man sich jetzt in den Reichsratssaal setzen und die CD anhören, man könnte sich das Treiben wirklich vorstellen (vielleicht eine Idee, wenn die derzeit stattfindende Renovierung des Parlamentes abgeschlossen ist und man Zutritt zum Reichsratssaal bekommt).

Dieses Buch ist ein Glücksfall – das habe ich zwar schon zu Beginn geschrieben, aber es schadet nicht, es zu wiederholen. Das betrifft nicht nur den Inhalt sondern auch dessen Zusammenstellung, die dafür sorgt, diese vergangene Zeit noch besser zu begreifen.

Und auch wenn es vielleicht schon abgegriffen klingt: es lassen sich daraus Lehren und Erkenntnisse für heute ziehen. Denn auch wenn wir die Zukunft der nächsten Jahre nicht kennen, so lässt sich aus Twains Berichten sehr greifbar verstehen, dass Einzelinteressen, Separation und die Verweigerung zur Zusammenarbeit niemals zu positiven Entwicklungen führen können. Nur, dass es heute nicht Österreich-Ungarn betrifft, sondern dass dies heute die Einheit Europas gefährdet.




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