Buchbesprechung/Rezension:

Daniel Kehlmann: Tyll

Tyll
verfasst am 21.01.2018 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Kehlmann, Daniel
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
LiteraturBlog Bewertung:

Online bestellen:   zum Thalia online-Shop
Schon selbst gelesen? Gib hier Deine Bewertung zum Buch ab!
[Gesamt: 0 Durchschnitt: 0]

Eine Zeitreise, das Eintauchen in die Welt von vor 400 Jahren.

Das Jahr 2018 ist reich an Jubiläen und Gedenktagen – einer davon ist der 23.Mai 1618, als der Prager Fenstersturz in weiterer Folge den 30-jährigen Krieg auslöste. In diese Zeit wird man von Daniel Kehlmann versetzt, wenn er in „Tyll“ über Gaukler, Aberglauben, Könige ohne Länder und über Hexen und Hexenjäger erzählt.

Tyll, das ist der Tyll Ulenspiegel, dessen Legende sich bis heute erhalten hat. Daniel Kehlmann lässt ihn, den Gaukler und Narren, in seinem Roman über den 30-jährigen Krieg in einer Welt voller Grausamkeiten, Aberglauben und Tod durch ein Land wandern, das von einer Apokalypse heimgesucht wird. Manchmal alleine, manchmal mit Nele, die er seine Schwester nennt, manchmal mit einer ganzen Truppe; wo er hinkommt erkennt man ihn, den berühmten Ulenspiegel. Und der Krieg verwüstet Dörfer und Städte und ganze Landschaften während zugleich auch noch selbstgefällige Hexenjäger und Richter das Volk tyrannisieren.

Es ist zwar nicht die Zeit des Till Eulenspiegel, denn der lebte der Überlieferung nach ein paar Jahrhunderte früher, doch Kehlmann macht ihn in seinem Roman zu einer Figur, die einerseits auf ihrer Wanderung auf historische Figuren der Zeit trifft und einen schicksalhaften Einfluss auf diese ausübt und andererseits jener Zeitgenosse ist, anhand dessen eigenem Lebensweg Kehlmann das Grauen der Zeit ungemein real erscheinen lassen kann.

Der Winterkönig Friedrich V., die Prinzessin Elisabeth Stuart, der Jesuit Oswald Tesimond, der schwedische König Gustav Adolf und der „Universalgelehrte“ Athanasius Kircher sind nur einige dieser historischen Figuren, die auftreten. In guter Tradition historischer Romane bettet Kehlmann diese historischen Personen und das, was über deren Leben wissenschaftlich belegt ist, in die Erinnerungen und Erzählungen erdachter Zeitgenossen ein.

Kehlmann selbst agiert dabei wie ein weiterer Geschichtenerzähler, der die Geschichten der Erzähler ergänzt, ihre Erinnerungslücken auffüllt, da und dort zurechtrückt, was seine Protagonisten beschönigen möchten, um der Nachwelt ein besseres Bild ihrer selbst zu hinterlassen.

Sie alle, die realen Personen und die erfundenen, bevölkern ein Land und eine Zeit, in der das Grauen zum bestimmenden Faktor jeden Lebens geworden war. Der 30-jährige Krieg hinterließ Verwüstungen und Narben, die erst hundert Jahre später wieder einigermaßen verheilt waren. Der Alltag der Menschen bestand aus der Angst davor, dass eines der vielen Heere, die plündernd und mordend über das Land zogen, auch bei ihnen vorbeiziehen würde; und aus der Angst davor, gegen eine der angeblich gottgegebenen Regeln zu verstoßen, die von der Kirche und von sogenannten Gelehrten aufgestellt wurden, um das gemeine Volk in Schranken zu weisen.

In einzelnen Abschnitten beschreibt Kehlmann immer wieder detailreich und anschaulich, wie das Leben der „einfachen“ Menschen ablief. Wie dem zum Tode Verurteilten der Weg zum Schafott als passender Preis erscheint, weil er mit seiner Henkersmahlzeit bisher ungeahnte und ungekannte Gaumengenüsse erlebt; wie die Sodaten an magische Worte und Sprüche glauben, die sie die Schlachten überleben lassen würden; wie die einfachen Leute ganz einfach und ohne Grund einen der ihren der Hexerei bezichtigen, nur weil ein „hoher Herr“ diesen anklagte. Es gibt viele solcher Einblicke in das alltägliche Leben und man möchte oft nicht glauben, in welch verzerrter Welt unsere Ahnen ihr Dasein fristeten.

Besonders der „Universalgelehrte“ Athanasius Kircher gerät ins Visier von Daniel Kehlmann. Diesen Jesuiten lässt er Thesen verbreiten, die den heutigen erfundenen Behauptungen von Verschwörungstheoretikern manchmal sehr ähnlich sind. Obwohl Kirchner durchaus in einigen seiner Arbeiten tatsächlich neue Entdeckungen machte, so bleibt er in diesem Roman doch nur ein selbstverliebter, bigotter Mann, dem es gelingt, mit allerlei wirren Thesen sogar den Papst von seiner, Kirchners, Weisheit zu überzeugen.

Tyll ist ein historischer Roman, eine Sage, vor allem aber eine ungemein dichte Erzählung über eine Zeit, wie wir sie uns heute nicht mehr vorstellen können. Mit wir meine ich uns hier in Europa; denn in vielen Regionen des Nahen Ostens ist diese Mischung aus Machtinteressen und Glaubenskrieg, die in Tod und die Vernichtung ganzer Landstriche mündet, so gegenwärtig, wie Daniel Kehlmann es in seinem Roman für die Menschen des 17. Jahrhunderts in Europa beschreibt.

Damit gibt es natürlich Verbindungen und Parallelen zwischen damals und heute. Wer diesen Roman liest, wird einige davon finden. Eine (bedrückende Erkenntnis) ist die, dass auch Jahrhunderte an Forschung, Wissenschaft und Erfahrung es nicht vermögen, das Unmenschliche in den Menschen zu verdrängen.

Ein wirklich großartiger Roman, der mich mit in einer Mischung aus Witz und Horror hineinzog in eine Welt, die zwar unendlich weit entfernt, zugleich aber Teil unserer Vergangenheit ist – wirklich einer der herausragenden Romane des Jahres 2017.

PS – mein Tipp: im Internet die Fakten zu den im Buch verarbeiteten Ereignissen und Personen recherchieren. Das liefert noch mehr Hintergrund zum Roman und holt vielleicht verschüttetes (Schul-)Wissen wieder an die Oberfläche.

Auf der Shortlist für den International Booker Price 2020




Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Top