Buchbesprechung/Rezension:

José Saramago: Das steinerne Floß

Das steinerne Floß
verfasst am 05.01.2018 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Saramago, José
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Eines von diesen Büchern, die durch spätere Geschehnisse Jahre nach ihrem Erscheinen erneut an Bedeutung gewinnen (mit der Betonung auf „erneut“). In Zeiten von Brexit und Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens ist Saramagos Erzählung über den Abbruch der iberischen Halbinsel vom europäischen Kontinent so aktuell, wie nur irgend möglich.

Dieser Abbruch beginnt – und damit unterschiedet er sich doch vom Aktuellen – nicht in den Köpfen sondern in der Gegend der Pyrenäen, dort wo Frankreich und Spanien aneinander stoßen. 

Zuerst sind es die Tiere, die die Spalten im Boden bemerken, dann die Techniker vom Staudamm am Fluss Irati, unweit der spanischen Stadt Orbaiceta. Denn der Technik bleibt nichts verborgen, womit schnell erkannt wird, dass der Irati kein Wasser mehr in den Staudamm bringt.

Die verwunderten Techniker folgen dem nun trocken liegenden Flußbett aufwärts und finden einen meterbreiten Spalt vor, in den der Iarti hinein stürzt. Geklärt ist nun zwar der Verbleib des Wassers (man hatte schon die Franzosen in Verdacht, etwas manipuliert zu haben), jedoch nicht der Ursprung dieser geologischen Anomalie. Mit den spanischen Technikern sind auch schon französische eingetroffen, die nun, auf der anderen Seite der Spalte, dort ebenso ratlos stehen.

Ein Spalt tut sich auf

Den Technikern folgen die Wissenschaftler, die Medien, die Politik. Und der Sturz des Irati in die Tiefe wird für kurze Zeit zum Mittelpunkt europäischen Interesses. Kurzzeitig nur, weil schon bald an anderen Orten vergleichbares geschieht. Spalten, die tief in den Boden reichen, die mehr oder weniger entlang der Grenze verlaufen, die sich immer weiter ausbreiten. Und das Meer, das von Osten und Westen in diesen neuen Zwischenraum eindringt.

Aus der Halbinsel wird eine Insel. Damit einher geht nicht nur die wachsende Entfernung vom Kontinent, natürlich verschafft sich der Atlantik zum Ausgleich auch einen immer breiteren Zugang zum Mittelmeer. Wir lesen über die Probleme, die eine Stadt wie Venedig durch das ansteigende Wasser bekommen würde – beinahe prophetisch ist das, wenn es auch der Klimawandel ist, der in unserer Zeit genau dazu führt. Zugleich muss erwähnt werden, dass der Felsen Gibraltar sich quasi weigert, mit auf die Reise zu gehen und fest an seinem angestammten Platz verharrt, nun ein einsamer Flecken im weiten Ozean.

José Saramago ist der Erzähler dieser so unglaublichen Geschichte; persönlich. Als ob er in seinem Lesesessel uns gegenüber säße, manchmal den Blick ins Buch vertieft und zitierend, manchmal den Blick uns Zuhörern zuwandt und aus der Erinnerung erzählend.

Die Reisenden

Saramago berichtet uns von drei Männern, einem Spanier, zwei Portugiesen, die besonderes erleben. Einer fühlt Erdbeben dort, wo Seismografen versagen, der andere wirft einen kiloschwere Stein, als ob der federleicht wäre und der dritte wird von einem immer weiter anwachsenden Schwarm von Staren begleitet. Es gibt noch andere, die mit außergewöhnlichen Erlebnissen aufwarten könnten, doch zunächst sind es diese drei, die uns nun führen und begleiten. Dann aber treffen die drei auf andere solcher Menschen und bald ist es eine kleine Gruppe, die da auf der Halbinsel zusammengefunden hat. Doch Moment, das ist falsch, denn jetzt müssen wir schon von der Iberischen Insel sprechen, die sich immer schneller und unumkehrbar von Europa entfernt. Als ob sie auf der Flucht in Richtung Südamerika wäre.

Es kommen bei dieser Reise sogar ein wenig nostalgische Gefühle auf, denn sie sind in einem Citroen 2CV unterwegs – damals wurde der sogar noch produziert, war also durchaus im Straßenbild präsent, heute aber ist er nur noch eine Erinnerung an die alten Zeiten. Die 2CV-Produktion war sogar in Portugal angesiedelt, was selbst bei einer Insellage für Nachschub gesorgt hätte.

Rundherum greift die Angst um sich, es könnte der verbleibende Platz nicht mehr reichen. Obwohl der Platz für die Spanier und Portugiesen gar nicht weniger geworden war. Es hatte aber jemand gehört, dass jemand gehört hatte von jemanden, der jemanden kannte, der selbst betroffen war … es wird so unheimlich vertraut, wenn man Saramagos Figuren mit so vielen, heutzutage von Sozialen Medien und Gerüchten beeinflusssten, Menschen vergleicht, die alles glauben, was sie aus möglichst obskuren Quellen hören, aber nichts mehr selbst, mit eigenen Augen sehen.

Es ist diese Szenerie der über den Ozean gleitenden Landmasse, die zur gespannten Erwartung über Ziel und Ausgang dieser Reise führt und es ist diese gleichermaßen ausgeschmückte, wie präzise Sprache (viele nennen sie „barock“), die gemeinsam einen außergewöhnlichen und herausragenden Roman schaffen.

Damals und heute

Damals, im Erscheinungsjahr 1986, waren Spanien und Portugal gerade der EU beigetreten. Seit dem 1. Jänner jenes Jahres waren die beiden Länder Unionsmitglied Nummer 11 und 12 und die Menschen eben noch dabei, sich in eben dieser Union einzuleben. So konnte man diesen Roman damals wahrscheinlich als Satire, sicher aber als kluge Beobachtung der Veränderung und der Verunsicherung verstehen, die mit diesem Eintritt begannen und einher gingen.

Heute, im Jahr 2018, ist aus dem Roman über den Abbruch ganzer europäischer Länder eine – wenn auch etwas lang geratene – Parabel geworden. Dass jetzt ein durch Nordspanien / Katalonien ein Bruch zwar nicht in der Erde, dafür umso mehr in den Köpfen verläuft, ist eine beinahe schon ironisch wirkende Analogie.

Nicht die einzige Analogie: Saramago erzählt von Flüchtlingen, die unter allen Umständen auf den in der Ferne verschwindenden Kontinent wechseln möchten, von den Reichen, die mit all ihrem Hab und Gut die Inseln verlassen, von den Armen die zurückbleiben und sich an den von den Reichen verlassenen Orten ein wenig Besserung ihrer Lebensumstände erhoffen.

Ich habe mir das Lesen dieses Romanes ganz bewusst aufgeteilt. Jeden Tag nur ein, zwei Kapitel, damit ich mich länger an der Sprache und der Phantasie und der daraus entstehenden Bilder erfreuen konnte. Denn jenseits von allem, was jede/r für sich aus diesem Roman herauslesen kann und wird und will, ist es vor allem ein ganz erstaunliches und beeindruckendes Stück Literatur. Durchaus einer der wichtigen Romane des 20. Jahrhunderts.




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