Buchbesprechung/Rezension:

Éric Vuillard: Die Tagesordnung

Die Tagesordnung
verfasst am 10.06.2018 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Vuillard, Éric
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Geschichte, anders und viel weitergehend erzählt. Éric Vuillard beobachtet diejenigen, die Hitler und Göring begegneten. Die Ja-Sager, die Beschwichtiger, die Angstvollen.

Der Rahmen der Ereignisse beginnt kurz nach der Ernennung Hitlers zum Reichkanzler, zu Beginn des Jahres 1933. Als 24 deutsche Industriekapitäne durch ihre bereitwilligen Spenden  den weiteren Aufstieg der Nazipartei kräftig unterstützten, wenn nicht gar erst ermöglichten.

Es sind 24 Herren, allesamt sich ihrer Wichtigkeit überaus bewusst. Sie stehen aber für Unternehmen, die sich in den Folgejahren mit Hilfe der Nazis und auf dem Rücken und den Leichen von Zwangsarbeitern neuen Reichtum aneigneten, auf dessen Grundlage sie noch heute agieren. Unternehmen und Namen, die wir alle kennen.

Das, was danach geschah, die folgenden 12 Jahre voller Gewalt, Tod und Vernichtung lasten als andauernde (Mit)Schuld auf diesen Namen.

Die Beschreibung der Begegnungen mit Hitler und Göring mögen zum Teil erklären, warum es diesen doch sichtlich wahnhaften Figuren gelingen konnte, Deutschland, dann die Welt mit ihren irrsinnigen Plänen zu überrollen. Es ist diese Mischung aus stets präsenter Gewalt, gepaart mit der Bereitschaft der Anwesenden, sich blenden oder einspannen zu lassen. Die Industriekapitäne mit der Aussicht auf schrankenlosen Kapitalismus, die Politiker wie Chamberlain in der verzweifelten Hoffnung, durch Zugeständnisse einen offensichtlichen Lügner und Mörder wie Hitler (oder Göring) in seinen Vorhaben bremsen zu können. Es erklärt teilweise, es liefert aber nicht eine einzige Grundlage, auf der irgendjemand eine Entschuldigung für sein Handeln herauslesen könnte. Beinahe jeder, der in diesem Buch erwähnt wird, eine Rolle spielt, trägt Mitschuld.

Die Hauptrolle spielt jedoch Kurt Schuschnigg, Österreichs Mini-Diktator bis 1938. Éric Vuillard beschreibt schonungslos einen überforderten Mann, der angstvoll um sein Leben und um seine Machtposition fürchtet. Der zaudert, der einen verzweifelten Versuch der Gegenwehr unternimmt, der scheitert, der untergeht.

Das erschütternde ist dann aber, dass alle diese Ja-Sager, Beschwichtiger, Angstvollen keine Veranwortung übernehmen mussten. 60 Millionen waren in diesen 12 Jahren der Naziherrschaft gestorben, aber bis auf ein paar läppische Jahre Gefängnis für einige wenige, ging es für alle nach 1945 ungestört und unbelastet weiter.

Aus Zitaten, Erinnerungen stellt Éric Vuillard Szenarien zusammen. So wie es wohl gewesen sein muss. Der Naziterror, der Krieg, das Morden  sorgen dabei für den Hintergrund, vor dem das Beschriebene stattfindet. Es geht so weit, dass er den „Blitzkrieg“, dieses Synonym für die Aggression Nazideutschlands, zu einer Satire verwandelt, als nämlich die Okkupation Österreichs nicht zum martialischen Auftritt sondern zu einem Bild des Jammers wird, in dem die Panzer der Wehrmacht die Straßen blockierten, unbeweglich, mit kaputten Motoren, anstatt kettenrasselnd nach Wien zu rollen.

Dieser Blick in „Die Tagesordnung“ auf ein schon so oft und vielfältig beleuchtetes Kapitel der Geschichte ist völlig anders als alles, was man bisher lesen konnte. Da versagt auch die Zuordnung in Geschichte oder Literatur. Éric Vuillard beobachtet diejenigen, die Hitler und Göring begegnen aber auch diese beiden selbst, so, als würde er das Geschehen direkt als Kommentator verfolgen.

Daraus entsteht ein Buch, das in schier unglaublicher Weise Klarheit und Einblick verschafft. Beklemmend. Gewaltig.




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