Buchbesprechung/Rezension:

Sinclair Lewis: Main Street

Main Street
verfasst am 08.06.2018 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Lewis, Sinclair
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Eine amerikanische Kleinstadt, weit von der nächsten Großstadt entfernt. Die Mainstreet, die Läden, die Männer, die sich selbst als die Bewahrer der Ordnung und des Pioniergeistes betrachten; und die Frauen, die als getreue Vasallinnen ihrer Ehemänner die Tage mit aus ihrer Kleinstadtsicht so ungemein wichtigen Tätigkeiten verbringen.

Ein Blick zurück in die USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ein nostalgischer Blick könnte man meinen.

Eine junge Frau wie Carol Milford ist in solch einer Gesellschaft natürlicherweise zunächst nur eine Fremde. Als gerade angetraute Mrs. Kennicott, Ehefrau des angesehenen Arztes Will Kennicott, kommt sie aus der Großstadt St. Paul in das Provinznest Gopher Prairie – irgendwo in Minnesota würde man diese unansehnliche Ansammlung von Menschen und Häusern verorten.

Ganz im Vertrauen auf die Begeisterung ihres Ehemannes hatte Carol in die Hochzeit eingewilligt, in der Erwartung eines beschaulichen Familienlebens auf dem Lande und darauf, in ihrer neuen Heimat, wie Will es ihr so enthusiastisch versprach, als diejenige begrüßt zu werden, die endlich die moderne Welt, die Kultur nach Gopher Prairie bringt; doch auch ohne dies, Wills Begeisterung ist schier grenzenlos, wäre Gopher Prairie schon der wunderbarste Ort auf der Welt.

Wie sehr doch die Träume und die Ankündigungen von der Wirklichkeit abweichen können! Schon als der Zug den Ort erreicht, kommen ihr erste Zweifel, ob sie denn dieses trostlose Kaff am Ende der Welt in eine neue Zeit hiefen könnte. Und als nach wenigen Tagen der freundlich-vorsichtigenVorstellungsrunden die aufgesetzte Willkommensfreude und Offenheit der Einwohner in Missgunst, Neid und Tratscherei umschlagen, scheint es, als müsste Carol all ihre Pläne, all ihren Enthusiasmus für immer begraben.

Wir befinden uns in den 1910er-Jahren. So weit weg von unserer Zeit, so viele Jahrzehnte sind seither vergangen, in denen sich so viel hätte ändern können.

Jedoch stellt sich Lewis‘ „Main Street“ als eine Satire heraus, bei der einem das Lachen meist im Halse stecken bleibt, bei der kein Hochmut aufkommen kann. Denn die Kleingeistigkeit ist heute so gegenwärtig wie damals, der Rassismus gegen Fremde – hier zwar noch gegenüber den eingewanderten Schweden oder Deutschen(!) – war damals so präsent wie heute und das Beharren auf Althergebrachtem, das Rückwärtsdenken samt stupider Ablehnung von geistigem und moralischem Fortschritt prägt gerade heutzutage wieder den gesellschaftlichen und politischen Diskurs.

Main Street ist eine sehr umfangreiche und vor allem auch sehr detailreiche Beschreibung dessen, was man die (erz)konservative Mitte der USA nennen könnte – als Europäer darüber verächtlich den Kopf zu schütteln wäre aber natürlich grundlegend falsch; wir sind da oft nur unwesentlich „moderner“. Der Roman ist somit ein Puzzleteil, ein sehr wichtiger und entscheidender, zur Erklärung eines Landes, das in den vergangenen Jahren immer weiter weg von Liberalität (wieder zurück) in Richtung rechtem, weißem Fundamentalismus driftet (falls denn eines solche Liberalität überhaupt jemals ein wichtiger Teil der amerikanischen Gesellschaft war). Der Roman erklärt uns, als Nicht-Amerikanern, wie diejenigen ticken, die solche Leute wie Trump und Bannon unterstützen und wie es dazu kam.

Zugegeben: durch den schieren Umfang des Romanes (beinahe 1000 Seiten) verlor ich zeitweise die Konzentration beim Lesen. Lewis schildert die Menschen so detailreich, so bis in den letzten Winkel ihres Äußeren und ihres Inneren; so wie man auf einem hochauflösenden Bild immer wieder neue und ungesehene Details erkennen kann, entdeckt man bei Lewis‘ Protagonisten mit jeder neuen Seite Neues. Am Ende hatte ich das Gefühl, ein paar 1000 Leute persönlich kennengelernt zu haben.

Andererseits: im Zusammenspiel all dieser Details, im Vergleich von Damals und Heute entstand für mich ein ungemein dichtes Bild, das weit über Satire hinaus geht. Denn da dieser Vergleich doch nur ergibt, dass viel zu viele Menschen in mehr als 100 Jahren rein gar nichts in moralischen Belangen gelernt haben, ist es schon beinahe eine Tragödie.

PS: wem 1000 Seiten zu viel sind: es empfiehlt sich dann, den Roman zwischendurch zur Seite zu legen und nach einer Pause mit neuem Elan weiterzulesen. So habe ich es gemacht :-)




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