Buchbesprechung/Rezension:

Georges Simenon: Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah
verfasst am 24.06.2019 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Simenon, Georges
Genre:
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Was hat dieser Mann vor? Kees Popinga läuft Amok – so wenigstens würde man heutzutage nennen. 

Georges Simenon hat mit diesem Roman eine Vorlage zu TV-Serien wie „Breaking Bad“ oder Filmen wie „Falling Down“ geschaffen. Ein bislang biederer, unauffälliger Mann mittleren Alters wird von einem Moment auf den anderen aus der Bahn geworfen.

Bei Kees Popinga lässt sich dieser Moment genau definieren: als ihm sein Chef eröffnet, dass er seit Jahren Geld unterschlagen hat, dass die Firma in Groningen am nächsten Tag den Bankrott erklären wird und dass er, der Chef, es bedaure, dass Kees Popoinga nun vor dem Nichts steht. Denn der Firmenchef traut Popinga keinesfalls zu, nach diesem Rückschlag wieder auf die Beine zu kommen.

Popinga hatte als Prokurist in die Firma auch eigenes Geld investiert, er führt eine unauffällige Ehe, hat zwei Kindern, eine Villa, für die noch viele Jahre Raten an die Bank zu zahlen sind und ist in der Gesellschaft der Stadt Groningen ein recht geachteter Bürger. Alles das, so meint der Chef, würde Popinga am nächsten Tag verlieren, denn er hätte gar nicht den Schneid und die Energie, mit seinen 40 Jahren neu zu beginnen.

Das ist der Moment, in dem sich in Popinga ein Schalter umlegt. Am nächsten Tag wacht er auf und beschließt (weiß er überhaupt selbst, warum?), ab sofort ein anderer zu sein. Besser als alle anderen, gescheiter, gewitzter, schneller. Er würde tun, was ihm gefällt und niemand würde ihn an irgendetwas hindern können.

Was hat er nun also vor?

Popinga steigt in den Zug nach Amsterdam, um die erste Sache zu erledigen, die ihm in den Sinn kam: die ehemalige Geliebte seines Chefs nun selbst zu erobern. Es ist der Auftakt zu einer Odyssee durch Bars und Bistros, von einer Frau zur nächsten; eine Odyssee, während der Popinga mehr und mehr in seiner Eitelkeit, seiner Überheblichkeit und in seinen Allmachtsphantasien versinkt. Egal, was er tut, und sei es eine Bluttat, niemand würde ihm etwas anhaben können, immer wäre er den anderen mindestens einen Schritt voraus.

Simenon schrieb diesen Roman über weite Strecken, asl wäre es der Roman über die Selbstgespräche des Protagonisten. Damit verfolgen wir das Geschehen im Kopf Popingas mit, erfahren, was davon real und was nur eingebildet ist nur dann, wenn Popinga eine Zeitung liest oder wenn hin und wieder auch andere zu Wort kommen.

Spannend zu verfolgen, wie sich Popingas Wahrnehmung immer weiter von der Wirklichkeit entfernt und er dafür immer tiefer in seine eigene Traumwelt abgleitet. Wie er alles, was er liest, hört, sieht und erfährt, immer öfter und dann nur mehr im Sinne seiner eigenen Perspektive und Selbsteinschätzung  deutet. Kann er überhaupt noch die richtigen Schlüsse aus dem ziehen, was um ihn herum passiert? Oder ist er schon längst in einem unsichtbaren Netz gefangen und merkt es nur noch nicht?

Zusätzlich – und das finde ich ebenso spannend – liefert dieser Roman einen gleichsam interessanten wie wundersamen Einblick in Gesellschaft und Moral in den 1930er-Jahren. Ist der Mann, der Amok läuft, etwas, das wir durch beinahe tägliche Nachrichten noch verstehen, so scheinen die im Buch beschriebenen Formen des Zusammenlebens, der Umgang zwischen Mann und Frau oder auch die Berichterstattung in den Medien wie aus einer anderen Welt; nur 80 Jahre zurück in der Vergangenheit und doch unendlich weit weg.




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