Buchbesprechung/Rezension:

Alexander Lernet-Holenia: Die Standarte

Die Standarte
verfasst am 04.12.2019 | 1 Kommentar

Autorin/Autor: Lernet-Holenia, Alexander
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Ein Roman über die Vergänglichkeit, über eine untergegangene Epoche, mit der verschwand, was über Jahrhunderte hinweg als festes und ewiges Fundament der Gesellschaft erschien. Als die Donaumonarchie im Jahr 1918 zerbrach und die aus ihren Teilen entstandenen Staaten eigene Wege gingen, stellte sich für viele Menschen ein neues Gefühl der Freiheit ein; etwas, das sich in den folgenden Jahren aber für die meisten als sehr trügerische Hoffnung heraus stellte.

Ein kleiner Rest dieses einst mächtigen Reiches war Österreich (dem französischen Ministerpräsident Clemenceau schreibt man das wenig schmeichelhafte Zitat „Österreich ist, was übrig bleibt“ zu), mit einer Hauptstadt Wien, die viel zu groß für dieses kleine Land zu sein schien. Hier, ein Jahrzehnt nach dem Ende des Krieges, beginnt die Erzählung des Fähnrichs der kaiserlichen Armee, Herbert Menis:

Alles trug sich Anfang Oktober 1918 zu, in den letzten Wochen des Krieges und der Monarchie. Menis wurde nach Belgrad versetzt; ihm, den Neffen eines Generals der Kavallerie, wollte man wohl an diesem Ort, fern von den Kämpfen, Zeit geben, sich von seiner schweren Verwundung zu erholen.

Hier geschahen nun zur selben Zeit zwei Dinge: Menis sah im Theater die wunderschöne Hofdame Resa Lang und wollte, ja musste, ihr unbedingt vorgestellt werden. Zwar gelang ihm das mit einem gehörigen Maß an Unverfrorenheit, doch hatte sein forsches Auftreten zur Folge, dass er sofort in eine abgelegene Garnison abkommandiert wurde.

Gewissermaßen im allerletzten Moment vor seiner Abreise gelang es ihm, ein Treffen mit Resa Lang zu arrangieren, das ihm Hoffnung machte, dass sie seine Zuneigung erwidern würde. Menis versprach, in der kommenden Nacht wieder zu kommen, auch wenn das für ihn einen stundenlangen Ritt bedeutete. In seinem vorgesetzten Rittmeister Graf von Bottenlauben fand er einen Vertrauten, der ihm zunächst bereitwillig einen Passierschein für dieses nächtliche Abenteuer ausstellte.

Zur selben Zeit jedoch, und das ist das zweite Ereignis, brach die Front im Süden immer weiter ein und näherte sich Belgrad. Man konnte schon den Kanonendonner hören und Menis‘ Division wurde an die Front abkommandiert. Aber wie auch an so vielen anderen Orten der Monarchie begannen die Soldaten zu meutern. Wer nicht aus dem österreichischen Teil des Reiches stammte, sah keinen Sinn darin, gegen den Feind eines Landes zu kämpfen, das er selbst nicht mehr als das seine anerkannte. Die Polen, die Ruthenen, die Slowenen, die Böhmen, die Rumänen – für sie war die Donaumonarchie bereits vergangen, eine Zukunft gab es nur nur für ihre eigenen Heimatländer.

Die Meuterei der Soldaten in Menis‘ Regiment mündete in einem Blutbad. Der Divisionskommandant lies ein kaisertreues Regiment heran holen, das unvermittelt das Feuer auf die Befehlsverweigerer eröffnete. Im Kugelhagel starben auch viele der Offiziere, darunter der älteste Fähnrich, und so erhielt Menis den Befehl, die Standarte des Regiments zu übernehmen.

Mit nur einer Handvoll Überlebender aus seinem Regiment und mit Resa an seiner Seite schaffte es Menis, vor den schnell vorrückenden Briten aus Belgrad zu fliehen. Es folgte eine mühevolle Reise zuerst nach Ungarn und von dort nach Wien. Eine Reise, während der sich die Welt draußen vor den Fenster des Zuges vollständig änderte. Plötzlich überall Grenzen, wer am Vortag noch Bewohner des selben Staates war, war nun Bürger eines neuen Staates. Menis brachte die Regimentsstandarde, noch ganz im Glauben an das Fortbestehen der alten Werte, nach Wien, aber nicht alle seiner Begleiter überlebten diese Flucht.

„Die Standarte“ ist, ganz einfach gesagt, ein großartiger Roman. Lernet-Holenia versteht es hier wirklich meisterhaft, die historischen Geschehnisse mit der persönlichen Erfahrung einzelner auf spannungsreiche Weise zu verbinden. Das Resultat ist eine Erzählung, die diese Tage voller geschichtsträchtiger Umbrüche unglaublich real dokumentiert. So real, dass man auch heute, mehr als 100 Jahre später und ohne jemals selbst in diesem Kaiserreich gelebt zu haben, verstehen kann, wie dramatisch das alles auf die einzelnen Menschen gewirkt haben muss.

Fähnrich Menis steht dabei für alle, die fest verwurzelt sind in der Tradition, im Glauben an Kaiser und Kaiserreich. Sie stehen in diesem November 1918 vor einem Abgrund und alles, was davor von Wert und von Bedeutung war, verschwindet in dessen bodenloser Dunkelheit.

Wie Menis erging es nach dem Krieg und der Auflösung der Monarchie dem ganzen neuen Staat Österreich, dem niemand, schon gar nicht die eigenen Bürger, ein Überleben zutraute. Die Standarte, die der Fähnrich bis nach Wien gebracht hatte, hat am Ende keinen Wert mehr, weil nichts mehr von dem, was sie repräsentierte, existiert; er wirft sie ins Feuer, wo sie zusammen mit all den anderen Fahnen und Standarten verbrennt.

Gemeinsam mit Resa betrifft Menis, nun da er die alte hinter sich gelassen hat, eine neue Welt.




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