Buchbesprechung/Rezension:

Jonathan Coe: Middle England

Jonathan Coe: Middle England
verfasst am 15.02.2020 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Coe, Jonathan
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
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[Gesamt: 1 Durchschnitt: 5]

Wann begann es eigentlich, dieses Auseinanderdriften von Teilen unserer Gesellschaft? Was war der Anlass dafür, dass quer durch Familien, Freundeskreise, Nachbarschaften auf einmal Risse sichtbar wurden, die früher doch scheinbar gar nicht vorhanden waren? Gab es einen konkreten Moment?

Sieht man sich den öffentlichen Diskurs im Jahr 2020 an und vergleicht ihn mit dem von vor 10,20, 30 Jahren, dann wird man sehr schnell mitbekommen, dass sich eines ganz besonders geändert hat: die Positionen sind unversöhnlicher geworden. Gegensätze gab es immer, doch der Diskurs darüber ist einem Lagerdenken gewichen, das es immer schwieriger macht, einander über die Abgründe hinweg die Hand zu reichen; oder wenigstens nur zuzuhören.

Mir würden dazu einige Ursachen einfallen: der Finanzcrash des Jahres 2008 und wie Banken und Versicherungen mit dem Geld der Steuerzahler saniert wurden; die Flüchtlingskrise des Jahres 2015, die wiederum eine Spätfolge der WorldTrade-Anschläge und der nachfolgenden Militäraktionen unter George W. Bush und Donald Rumpsfeld war; der schlampige Umgang unserer Politiker mit Extremisten im eigenen Land; der nachsichtige Umgang in der Besteuerung internationaler Unternehmen im Gegensatz zu unvermeidbaren Steuerlast von Bürgern und nationalen Unternehmen, Separation statt gemeinsamer Anstrengungen, die Anonymität des Internets, in deren Deckung man so leicht alle Hemmungen fallen lassen kann  … die Liste ist lang …

Und jetzt ist es tatsächlich geschehen: ein paar Männer (David Cameron, Nigel Farage, Boris Johnson) haben aus egoistischen Gründen viele willige Menschen dazu verführt, einen (wahrscheinlich) historischen Fehler zu begehen – der Brexit ist vollzogen. Dummheiten bei Wahlen geschehen ja oft (immer öfter), aber dann können wir das ein paar Jahre später wieder ausbessern. Der Brexit aber lässt sich in vier Jahren nicht wieder abwählen – die Engstirnigen und Alten haben den Weltoffenen und Jungen eine schwere Last für die Zukunft umgehängt. (Mit ALT meine ich in diesem Zusammenhang nicht das Geburtsdatum dieser Leute sondern deren geistige Haltung).

Jonathan Coe erzählt von den Entwicklungen innerhalb der englischen Gesellschaft von 2010 bis 2018. Auch wenn die Lebensweise der Engländer ein wenig von der unsrigen abweicht, so finden sich doch die gleichen gesellschaftlichen Strömungen auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Da sind die, die sich abgehängt fühlen und alle anderen, vorrangig Ausländern und Angehörige von Midnerheiten,  für eigenes Unvermögen verantwortlich machen. Dann die, die meinen, die absolute Weisheit gepachtet zu haben und keine andere Meinung außer der selbst vertretenen akzeptieren. Dann die, die immer nur das glauben, was dem „Mainstream“ widerspricht und an alle möglichen Verschwörungen glauben. Oder die, die aus Gier, Egoismus oder Verblendung vergessen haben, dass es sich nur in einer einigermaßen ausgeglichenen Gemeinschaft menschenwürdig und friedlich leben lässt.

In den Protagonisten dieses Romanes spiegelt sich die Gesellschaft: Benjamin Trotter, der sich aufs Land zurück gezogen hat, um endlich sein Lebensprojekt, den Roman seines Lebens abzuschließen. Sophie, seine Nichte, die ihre eigenen Vorsätze über Bord wirft und heiratet. Ian, Sophies Mann, der weltoffen erscheint, was jedoch nur die dünne Hülle über einem ganz gegensätzlichen Charakter sein könnte; hat er mehr von seiner Mutter, deren Ablehnung alles Fremden augenscheinlich ist, als Sophie wahrhaben möchte? Doug, der politisch links stehende Journalist, den seine Tochter verachtet, weil er eine Freundin hat, die mit den Tories arbeitet. Freunde und Verwandte aus unterschiedlichen Schichten und mit unterschiedlichen Lebenswegen.

Offener oder nur mühsam verborgener Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Anfeindung von Minderheiten: Coes Charaktére verkörpern entweder all das oder werden mit all dem konfrontiert.

Es sind die Geschichten vieler Begegnungen, die in diesem Buch erzählt werden. Geschichten, die manchmal amüsant sind (british eben), oft aber hat man beim Lesen das Gefühl, dass sich dabei  nur die Darsteller der Personen gegenüber sitzen, die eine Rolle spielen. Man verhält sich lange Zeit so, wie es erwartet wird – aber dann und wann, es bedarf vielleicht nur eines kleinen Anstoßes, drängen die unterdrückten Gefühle mit Macht an die Oberfläche.

Den Hintergrund zu diesem Roman über die gegenwärtige englische Gesellschaft liefert die politische Entwicklung des Landes. Wie es, in der Nachwirkung der Finanzkrise von 2008, zu den politischen Entscheidungen und Entwicklungen kommen konnte, die am Ende in den Brexit mündeten. Das Buch ist damit auch eine Chronik der Ereignisse und erinnert an die Schlagzeilen, die vor dem Referendum durch die Presse gingen.

Das alles zusammen macht „Middle England“ zu einer ungemein wirkungsvollen Erzählung, die (für Nicht-Engländer) auch einige weniger bekannten Fakten und Vorgänge beschreibt und in der es deutlich wird, wie die gesellschaftlichen Veränderungen und das verlernte „Miteinander-Reden“ in England das öffentliche Leben bestimmen; genau so wie auch bei uns in Mitteleuropa. Immer schneller bewegt sich alles zurück in die Vergangenheit, angeheizt von Egoismus, Aversion und Unwissenheit. Dieser Roman macht dabei jedoch auch bewusst, dass es viel zu einfach wäre, die Schuld dafür einfach solchen herausragenden Lügnern und Demagogen wie Cameron, Johnson oder Farage (oder Trump) zuzuschieben; sie alle könnten ihre destruktiven Ziele nicht erreichen, wenn es nicht genügend Menschen gäbe, die es zulassen, belogen und verführt zu werden.

Doch nicht alles ist verloren – auch das lässt sich aus Jonathan Coes Roman heraus lesen. Es gibt weiterhin viele Menschen, die versuchen, Ausgleich zu schaffen; sie haben es eben nur nicht leicht, sich gegenüber den Lauten und Rücksichtslosen Gehör zu verschaffen – aber sie haben die bessere Zukunft auf ihrer Seite. Dessen bin ich mir sicher und darauf baue ich.




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