Buchbesprechung/Rezension:

Antonio Scurati: M. Der Sohn des Jahrhunderts

M. Der Sohn des Jahrhunderts
verfasst am 18.05.2020 | 1 Kommentar

Autorin/Autor: Scurati, Antonio
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
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Die Machtergreifung, betrachtet und beschrieben wie aus der Perspektive eines Beobachters, direkt aus dem Inneren der Ereignisse: der Aufstieg Mussolinins von einer gescheiterten Randfigur der Geschichte zum faschistischen Diktator Italiens wird von Antonio Scurati in einer Weise erzählt, die es die Leserin/den Leser hautnah begreifen lässt, wie dieser Aufstieg überhaupt möglich war und wie er sich vollzog.

Mussolini war der erste der faschistischen Diktatoren Europas im 20. Jahrhundert und lange Zeit auch ein Vorbild Hitlers. Was Mussolini dabei auch von den meisten anderen unterscheidet ist, dass er einer der wenigen ist, der aktiv gestürzt wurde und nicht erst durch den Tod aus der Machtposition schied (Doch davon ist in diesem Roman noch nicht die Rede). Mussolinis Wirkung reicht aber bis in die Gegenwart, denn die Methoden der Faschisten (heute:Rechts-Nationalisten) blieben bis heute unverändert: Lügen, ungezügelte Gewalt, Korruption.

In kurzen Kapiteln wird man ganz nahe an die Ereignisse heran geführt. Jedes Kapitel hat ein Datum, einen Zeitraum, ein bestimmtes Ereignis zum Inhalt, sehr oft gefolgt von Originalzitaten oder Originalberichten dazu.  So ist dieses Buch auch eine Chronik der Ereignisse, eine Chronik der Eskalation.

Antonio Scurati wählte für seinen Roman eine Mischung aus Realität und literarischer Umrahmung, um nicht nur über die reinen Tatsachen zu berichten, sondern auch von dem zu erzählen, was im Hintergrund geschah, was die Beweggründe und Denkweisen der Beteiligten waren, wie alles so kommen konnte, wie es letztendlich kam. Das Ergebnis sind Kapitel, die wie Augenzeugenberichte wirken, wie mitten aus dem Geschehen heraus erzählt. Diese Mischung aus Realität und Fiktion ist es, die in Summe zu einer Erzählung wird, der man sich nicht entziehen kann.

Dabei ist der Roman nicht einfach zu lesen, sondern fordert: das ist auch darin begründet, dass über so viele Ereignisse, Personen und Gruppierungen geschrieben werden muss, um die Vorgänge zu verstehen. Antonio Scurati seziert gewissermaßen das Historische, entreisst den reinen Fakten auch alle Hintergründe, Verbindungen und Folgen.

Die geschlagenen Sieger

Italien war nach dem 1. Weltkrieg zwar auf der Seite der Sieger, aber das Land fühlte sich nicht so. Vielmehr hatte man den Eindruck, hinter England, Frankreich und den Vereinigten Staaten nur in der zweiten Reihe zu stehen und nicht den angemessenen „Lohn“ für die vielen Toten und die großen Verluste zu erhalten. In dieser Atmosphäre trieb das Land in Richtung eines Bürgerkrieges zwischen den Extremisten auf der rechten und auf der linken Seite.

Benito Mussolini hatte, nachdem er von den Sozialisten, wegen seiner nicht der Parteilinie entsprechenden Ansichten, ausgeschlossen worden war, im Jahr 1919 die Bewegung der Faschisten gegründet. Zunächst nur ein kleiner Haufen von primitiven Schlägern und ehemaligen Soldaten, die mit dem Frieden nicht zurecht kamen, wurde daraus innerhalb von 3 Jahren eine landesweite Bewegung und dann Partei. Als Gegenpart zu den eng mit der Sowjetunion verbundenen Kommunisten gewannen die Faschisten in der Bevölkerung rasch an Zuspruch in der Bevölkerung. Vom Staat und von den Grundbesitzern und Industriellen wurden die Faschisten auch als paramilitärische Kampfgruppe mehr oder weniger offen unterstützt, wenn brutale Aktionen gegen Sozialisten oder Kommunisten durchgeführt wurden. Morde und Anschläge standen auf der Tagesordnung, doch kaum ein Faschist wurde dafür von der Polizei verfolgt oder vor Gericht gestellt.

Das Zeitalter der Massenmörder

Der Roman behandelt die Zeit der Anarchie und des Aufstieges der Faschisten von einer Handvoll Leute zur beherrschenden Kraft und den Aufstieg Mussolinis zum Diktator in den Jahren 1919 bis 1925; es ist der erste von geplanten drei Romanen über Aufstieg und Fall Mussolinis.

Ähnlichkeiten der Geschehnisse in Deutschland und Italien sind natürlich klar erkennbar (Mussolini war für Hitler für lange Zeit ein Vorbild). In beiden Ländern war es die skrupellose Gewalt, mit der die Faschisten die Straße beherrschten und  ihre Gegner schikanierten, unterdrückten, ermordeten. Und in beiden Ländern entwickelte sich eine stillschweigende Duldung dieser Gewalt, waren die Politik und Exekutive auf dem rechten Auge blind, was am Ende in beiden Staaten zum Ende der Demokratie führte.

Einen wesentlichen Unterschied aber gab es: während mit der Weimarer Republik zumindest die Chance auf den Aufbau einer stabilen Demokratie bestand, hatte Italien nie eine Chance, „mehr Demokratie zu wagen“ (danke an Willy Brand für dieses Zitat). Das Land versank direkt nach der Gewalt des Weltkrieges in der von den Schlägertruppe der Schwarzhemden provozierten Gewalt der Straßenkämpfe.

Und die Nationalsozialisten gingen nach der Machtergreifung in Bezug auf Gewalt und Unterdrückung noch viel weiter als Mussolinis Faschisten.

Die Geschichte des Faschismus in Italien war mir in allen diesen Details, von die „M“ berichtet und erzählt, nicht geläufig. Nach dem Lesen dieses monumentalen Werkes über die Ursachen und Folgen des Aufstieges der Faschisten im Italien der 1920er Jahre habe ich nicht nur ungemein viel darüber gelernt, sondern auch erfahren, dass die Methoden der Rechtsextremen damals in Deutschland und in Italien beinahe identisch waren und sich diese Methoden seit damals nur sehr wenig geändert haben und von den Rechtspopulisten gerne übernommen werden.

Die Selbstauflösung der Demokratie

Wie auch in der Weimarer Republik, wie aber auch heute in Ländern wie Polen oder Ungarn, wählten die Italiener selbst den Weg aus der Demokratie und hinein in die Diktatur. Immer wieder gelang und gelingt es Parteien und Personen mit totalitären Zielen, die Mittel der Demokratie zu nützen, um diese zu zerstören.

Unser Glück heutzutage ist nur, dass die Mehrheit der Menschen weitaus gefestigter im demokratischen Denken und Handeln ist, als damals, als Demokratie für die meisten noch neu und unbekannt war. Dieses Glück ist aber jederzeit wechselhaft, wie die zwischenzeitlichen Erfolge der Rechts-Nationalisten von Le Pen bis AFD, von Strache bis Salvini (denn auch viele Italiener haben nichts aus ihrer Geschichte gelernt, Mussolini wird dort noch immer von vielen verehrt) laufend beweisen.




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