Yoko Ogawa: Insel der verlorenen Erinnerung
Autorin/Autor: Ogawa, Yoko
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Ein Roman aus dem Jahr 1994 der erst über den Umweg seiner englischen Übersetzung auch zu uns kam. Die englischsprachige Ausgabe mit dem Titel „The Memory Police“ stand auf der Shortlist des International Booker Price 2020 und nun erscheint das Buch im Verlag Liebeskind erstmals in deutscher Übersetzung.
„Insel der verlorenen Erinnerung“ ist ein Roman, der, ähnlich wie Orwells „1984“, eine Welt beschreibt, in der die Einzelnen ganz der Willkür der – nicht weiter im Detail beschriebenen – Staatsmacht ausgeliefert sind.
Die Insel ist der Ort, an dem Dinge, Objekte, Gegenstände und Erinnerungen verschwinden. Sie verschwinden nicht einzeln, sondern zur Gänze; sie werden aus der Zeit getilgt und sie verschwinden auch vollständig aus der Erinnerung der Menschen. Auf der Insel sind auf diese Weise schon die Vögel, die Kalender, die Spieluhren, die Schiffe und vieles mehr verschwunden und fast niemand kann sich an diese Dinge erinnern.
Es kündigt sich jedes Mal an, wenn etwas verschwinden wird. Die Bewohner der Insel können schon vorher spüren, dass es wieder passieren wird. Am Morgen, wenn sie dann erwachen, machen sie sich auf die Suche nach dem, was nicht mehr da ist. Als eines Tages die Rosen verschwinden, geschieht das in einer nie zuvor gesehenen Weise – der Fluss ist bedeckt mit den Blütenblättern der Rosen, die ins Meer treiben, alle Menschen versammeln sich an den Ufern und erleben dieses unglaubliche Schauspiel. Die blütenlosen Stängel bleiben und bald wird niemand mehr wissen, wie Rosen aussehen und niemand mehr wird das Wort „Rose“ kennen. So wird die Welt der Insel mit jedem verlorenen Objekt leerer, denn nichts tritt an dessen Stelle.
Die junge Schriftstellerin ist eine derjenigen, die nichts gegen das Vergessen tun können. Immer wenn etwas aus der Welt verschwindet, dann wird sie es auch selbst bald vergessen haben. Solange etwas noch da ist, sorgt man sich darum, fürchtet, dass es eines Tages nicht mehr da wäre – doch ist es entfernt, so ist es, als hätte es niemals existiert.
Mit der Vergangenheit und den nicht mehr vorhandenen Erinnerungen verbindet sie nur R., den sie in ihrem Keller versteckt.
Auf der Insel verschwinden nicht nur die Dinge, es verschwinden auch die Menschen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, an diese Dinge erinnern. Dann greift die Erinnerungspolizei ein, diese Menschen werden verhaftet, entführt, nie wieder wird man eine Spur von ihnen finden – denn Erinnerungen sind eine Gefahr für das System, das auf Vergessen aufgebaut ist.
Eine Erklärung, warum die Dinge verschwinden, liefert der Roman nicht. So bleibt es uns selbst überlassen, uns darüber Gedanken zu machen. Die Welt, die Yoko Ogawa entwirft, mag dabei durchaus ihr Vorbild in Staaten haben, die es gab und gibt. Gerade im 20. Jahrhundert entstanden Unterdrückungssysteme, die perfekter, perfider, brutaler waren, als man es sich vorstellen konnte. Die Kontrolle der Gedanken, die Kontrolle der Lebensumstände, die Entscheidung über Leben und Tod – ob in China während Maos Kulturrevolution, in Kambodscha unter der Pol-Pot Herrschaft, im Albanien Enver Hodschas, in Deutschland zuerst unter den Nazis und dann in der DDR, in Nordkorea. Überall entstanden Diktaturen, die den Menschen alles aufzwangen, was das Regime forderte und alles nahmen, was ein Individuum ausmachte.
Zurück zur Schriftstellerin und zu R.: Als sie erkennt, dass R. bald von der Erinnerungspolizei abgeholt würde, versteckt sie R. im Keller ihres Hauses. Die beiden kennen einander, weil R. ihr Lektor ist, weil er alles liest, was sie zu Papier bringt. R. ist einer jener Menschen, die ihre Erinnerung behalten können und daher ein Feind des Systems.
Zwischen der Schriftstellerin und dem Mann, den sie versteckt, entwickelt sich eine Beziehung, die wohl weniger aus Liebe, denn aus Verzweiflung entsteht. Sie weiß, dass die Welt um sie herum Stück für Stück und unwiderruflich verschwindet, er hat in ihr die einzige noch verbliebene Verbindung zur Außenwelt und versucht unaufhörlich, ihre Erinnerungen zu retten.
So sehr R. versucht, ihr mithilfe von Gegenständen aus der Vergangenheit die Erinnerung daran wiederzubringen, so sehr müssen beiden aber doch einsehen, dass es nichts gibt, was etwas an der Endgültigkeit des Verschwindens ändern könnte. Wie weit dieses Verschwinden geht, ob es sich nur auf Gegenstände des Alltags bezieht oder ob es am Ende alles verschlingen wird, das ist die Ungewissheit in der R. und die Schriftstellerin von einem Tag auf den nächsten leben müssen.
Während R. aber immer in der Hoffnung lebt, das Vergessene zurückholen zu können, nimmt die Schriftstellerin, wie die anderen Bewohner der Insel auch, alles als unabänderlich an. Denn die Gedanken der Inselbewohner sind vollends davon ausgefüllt, den Alltag zu meistern, sich Lebensmittel zu beschaffen, Reparaturen zu organisieren, nur nichts zu unternehmen, was die Erinnerungspolizei aufmerksam machen könnte. Zeit, sich Gedanken um die Vergangenheit oder die Zukunft zu machen, bleibt niemandem. Es ist eine Methode der totalitären Regimes, die immer und überall funktioniert.
Warum alles geschieht, wie es begann oder wie es enden wird; dies ist ein Roman, der in ungeahnter Weise mit der Fantasie der Leserinnen und Leser spielt. Viele Gedanken werden nur aufgeworfen und lassen uns dann Spielraum, sie weiterzuentwickeln. Über den Anfang und das Ende mag man selbst spekulieren und an Parallelen in der Realität denken. Im Jahr 1994 erschienen, wird der Roman seine Entsprechungen und Quellen in dem haben, was damals geschah. Heute, 26 Jahre später, gibt es andere derartige Inseln, in denen Dinge verschwinden und Gedanken manipuliert werden. Zu den totalitären Regimes in China und Nordkorea haben sich andere Länder gesellt und es sind, damals noch ganz undenkbar, die virtuellen Welten, die im Jahr 2020 unser Leben beeinflussen und eigene Realitäten schaffen, hinzu gekommen. Welten, die oftmals mit dem wirklichen Leben nichts mehr gemein haben.
Wenn man das bedenkt, dann hat Yoko Ogawas Roman etwas Prophetisches.
Die Nominierung auf die Shortlist es International Booker Price 2020 ist unzweifelhaft richtig. Denn es ist schier unmöglich, sich den Bildern, die Yoko Ogawa entwickelt, zu entziehen. „Insel der verlorenen Erinnerung“ bedient sich einer anderen Herangehensweise, aber als Vision über eine nicht gänzlich abwegige Zukunft ist dieser Roman genauso nachhaltig wie „1984“.
Auf der Shortlist für den International Booker Price 2020
Hallo Mikka,
ja, es ist wirklich ein beeindruckendes Buch.
Ich konnte es beim Lesen nicht weglegen …
Hallo Andreas,
als ich das erste Mal von diesem Buch hörte, fühlte ich mich direkt an „Hüter der Erinnerung“ von Lois Lowry erinnert, das mich als Jugendlich schwer beeindruckt hat.
Deine Rezension klingt so, als könne „Insel der verlorenen Erinnerung“ eine ähnliche Wirkung auf mein Erwachsenen-Ich haben. Ich wollte es ohnehin schon lesen, aber deine Rezension hat mich darin noch bestärkt – sehr gut geschrieben!
LG,
Mikka