Michael Lichtwarck-Aschoff: Robert Kochs Affe
Der grandiose Irrtum des berühmten Seuchenarztes
Autorin/Autor: Lichtwarck-Aschoff, Michael
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin oder die Johns Hopkins Universität (JHU) in Baltimore: die wahrscheinlich bekanntesten Quellen, von denen wir seit Monaten mit den Zahlen zur Corona-Epidemie versorgt werden. Zwei Institute, zwei unterschiedliche Namensgeber. Der eine, Johns Hopkins, war Geschäftsmann im 19. Jahrhundert, der andere, Robert Koch (1843-1910), Nobelpreisträger für Medizin und Grundlagenforscher zur Bakteriologie und Epidemiologie.
Ein Buch über Robert Koch ist ein Buch über die Anfänge dessen, was wir gegenwärtig miterleben. Von der Entdeckung eines Erregers, über die Maßnahmen zur Eindämmung einer Epidemie, die Entwicklung von Impfstoffen bis hin zur Umsetzung. Was bei Koch Typhus, Malaria oder Tuberkulose waren, das ist heute das Corona-Virus.
Das Buch ist aber auch ein Buch über gleich mehrere Themenbereiche. Über Tierversuche, über das Recht der Wissenschaft auf Irrtum, über das Lernen aus Fehlschlägen, über die Gefahren vermeintlicher Heilmittel und ungetesteter Gegenmittel, über Moral, über Verantwortung, über den Wert und die Gleichwertigkeit vom Leben.
Stationen aus Kochs Lebensweg und -werk werden von anderen erzählt: Der Arzt Dr. Walther Hesse, der in Berlin als Assistenz des Professors tätig ist, als Koch selbst in Trier im Auftrag der kaiserlichen Armee die Typhusepidemie eindämmen soll. Oder der Bericht des einfachen Soldaten Johann Kindsmüller, der als Schreiber an Kochs Expedition in die deutschen Kolonien in Afrika teilnahm, die zum Zweck der Erforschung der Malaria durchgeführt wurden. Zum Abschluss die Ärztin Sara Josephine Baker im New York Health Department, die über den Fall der Mary Mallon berichtet, die ohne selbst krank zu werden, eine Vielzahl an Menschen mit Typhus infizierte (Koch nannte das eine „gesunde Bazillenträgerin“) – lesenswert für die uneinsichtigen, YouTube-gebildeten „Coronaleugner“.
In die Berichte eingeflochten sind die Abschriften von Vorträgen, Berichten und Texten, die Robert Koch verfasste. Es sind dies die originalen Gedanken und Anweisungen Kochs, aus denen zum einen seine Beweggründe und seine Vorstellungen ablesbar sind, andererseits aber auch, wie unterschiedlich Moralvorstellungen damals im Vergleich zu unseren heutigen waren. Im Zentrum dabei die Methode „Versuch und Irrtum“, die damals mangels anderer wissenschaftlicher oder technischer Möglichkeiten oft ohne Alternative war.
Es ist nachzulesen, wie schmal der Grat war (und sicher auch heute noch ist), auf dem sich Forschung zuweilen bewegt. Bis zu welchem Punkt sind Experimente noch zulässig und ab wann wird die Grenze überschritten, ab der Forschung auf Kosten von Leben und Würde der Probanden, seien Menschen oder Tiere, geht. Bei Koch kam noch der Kolonialismus dazu; auch er war in der Gedankenwelt der europäischen Überlegenheit gefangen, als Kaiser Wilhelm II. für das Deutsche Kaiserreich ein Kolonialreich erreichten wollte. Für Robert Koch war Afrika gewissermaßen ein großes Labor, in dem er frei von Einschränkungen Versuche durchführen konnte. Auch an Menschen und auch indem er deren Tod in Kauf nahm. Was mir immer völlig unverständlich ist, ist wie studierte Mediziner zugleich auch Rassisten sein können; ihr Studium hatte ihnen doch genau das Gegenteil vermittelt, dass es eben keine Unterschiede gibt (Ohne es direkt vergleichen zu wollen: Die Nazi-Ärzte mit ihren Menschenversuchen und Selektionen waren die extremsten Vertreter dieser abartigen Denkweise).
Michael Lichtwarck-Aschoff beschreibt eine oft verstörendes Agieren Kochs und seiner Gehilfen, deren Handeln einer Überprüfung durch Standards des 21. Jahrhunderts in Bezug auf Sicherheit, Moral und wissenschaftlicher Systematik wohl nicht standhalten würde. Es wird ausprobiert, die Folgen für die solcherart Behandelten sind schwer abschätzbar, Opfer werden im Sinne des Fortschritts in Kauf genommen. So war es beispielsweise auch möglich, dass Robert Koch Rattengift als Therapie an Menschen testen ließ, die Schmerzen und das Leid der damit „geimpften“ als notwendiges Übel von ihm abgetan wurde. So bewusst waren mir zuvor die ersten Schritte in Richtung der modernen Medizin nicht gewesen.
Damit zeigt der frühere Mediziner Lichtwarck-Aschoff auch ganz deutlich eine historische Last der Medizin auf: vieles von dem, das uns heute nützt, das heute Leben rettet und verlängert, wurde mit Methoden entwickelt, die dem Geist der Medizin doch widersprechen. Obgleich das damals, als es erforscht, entdeckt und entwickelt wurde nicht als Widerspruch angesehen wurde. In der gelungenen Kombination aus historischen Fakten und fiktiven Erinnerungen gelingt es dem Autor ein fesselndes und zugleich erschütterndes Bild über die Zeit aus den Anfängen der modernen Medizin zu zeichnen – und über das immerwährende Dilemma beim Abwägen zwischen Schaden und Nutzen (siehe auch die aktuellen Diskussionen um die Nebenwirkungen von Impfstoffen). Es ließe sich daraus der Buchtitel „Der grandiose Irrtum des berühmten Seuchenarztes“ auch gut begründet in „Der grandiose Sündenfall des berühmten Seuchenarztes“ ändern.
Was den „grandiosen Irrtum“ betrifft, so ist gemeint, dass Koch nicht verstand, dass Bakterien ein unverzichtbarer Teil des menschlichen Organismus sind und ein gänzliches Eliminieren dieser Bakterien nicht möglich ist, sondern im Gegenteil unseren Organismus sogar zerstören würde. Zudem war auch Kochs bevorzugte Maßnahme, ganze Menschengruppen zu isolieren, um die Ausbreitung von Seuchen zu unterbinden, zwar in Bezug auf Isolierung nicht gänzlich falsch, in der Umsetzung jedoch völlig überzogen. Dazu lehnte Koch es ab, Hygienemaßnahmen als wichtigen Bestandteil der Seuchenbekämpfung anzuerkennen.
Eine Diskussion, die bislang noch zu keinem Ende gekommen ist: wie sind solche Erkenntnisse zu bewerten, welche Wertschätzung ist für die Männer und Frauen, die dafür verantwortlich waren, gerechtfertigt? Dieses Buch liefert dazu keine Lösung, es liefert aber ein sehr begreifbares Bild über die oft tiefen Spuren, die Fortschritt hinterlassen kann, bevor er zum Nutzen für alle wird.
Die Corona-Pandemie ist wohl der aktuelle Auslöser gewesen, dieses Buch zu schreiben, die moralischen Fragen, die es beschreibt, betreffen aber ein weit größeres Feld und einen weit größeren Zeitraum als unsere Gegenwart. Das Corona-Virus werden wir dank der modernen Wissenschaft bald im Griff haben; die Herausforderung, Forschung und Wissenschaft immer auch in Bezug auf moralischen Werte zu bewerten, bleibt aber auch zukünftig.