Stefan Zweig: Marie Antoinette
Bildnis eines mittleren Charakters
Autorin/Autor: Zweig, Stefan
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Mit dem Untertitel „Bildnis eines mittleren Charakters“ erklärt sich Zweigs Einschätzung der zu trauriger Berühmtheit gelangten Königin von Frankreich. Wäre aus Marias Theresias jüngster Tochter Maria Antonia nicht Marie Antoinette geworden, die in der Französischen Revolution am Schafott endete, so wäre ihr Name wohl gerade einmal als ein Name unter vielen in den Stammbäumen der Habsburger aufgetaucht, zu mehr hätte es nicht gereicht.
Pure Mittelmäßigkeit ist es also, was Stefan Zweig der Königin zuschreibt. Eine gänzlich unbedeutende Person, die nur durch nicht von ihr hervorgerufene oder beeinflusste Vorgänge im Gedächtnis blieb. Während die Königin also nur durch ihren Tod auf dem Schafott in Erinnerung blieb, trugen sich zu ihren Lebzeiten auf der Welt große Veränderungen zu.
Für nichts davon interessierte sich Marie Antoinette, die in ihrer Oberflächlichkeit nur am eigene Vergnügen Interesse zeigte: nicht für den Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten, nicht für die Teilung Polens, nicht für den Aufstieg Preußens, nicht die Expansion Russlands unter Katharina der Großen. Doch auch darüber ist zu lesen, denn wenn schon die Thronfolgerin, später Königin, desinteressiert ist, der Autor des Buches ist es nicht, sondern setzt alles das in Bezug zueinander, erklärt die Zusammenhänge.
Zweigs Romanbiografien quellen über vor historischen Fakten und wahrheitsgetreuen Beschreibungen der Ereignisse im Großen wie im Kleinen. Das Quellenstudium, wie sonst hätte Zweig all das zusammentragen können, muss ungemein zeitaufwändig gewesen sein.
Dann und wann nimmt er eine Randnotiz aus der Geschichte und macht daraus eine ganze Erzählung voller Leidenschaft und Detailreichtum, als wäre er selbst – oder ein Zeitzeuge des Geschehens – direkt dabei gewesen. Es sind dies immer sehr kunstvolle Berichte über den Alltag oder über das Verhalten der Menschen.
Die zunächst Thronfolgerin, dann Königin ist an allem desinteressiert, was nicht ihrem eigenen Wohlbefinden und ihrer eigenen Unterhaltung dient, sie bleibt ohne jedes Interesse oder Verständnis für das Land und die Menschen des Landes. Da nützen auch die andauernden Ermahnungen ihrer Mutter oder ihres kaiserlichen Bruders nicht. Marie Antoinette lebt zeitlebens nach dem Motto, dass der Staat ihr zu dienen habe und nicht umgekehrt. Zu lesen ist von einer gedankenlosen jungen Frau, die die Zeichen der Zeit nicht erkennen will und sich langsam aber sicher alle zu Feinden macht: am Hofe, im Adel und in der Bevölkerung. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang der fast schon prophetische Vorausblick ihres Bruders, des Kaisers Joseph II. Dieser ermahnt nach seinem Besuch in Frankreich seine Schwester und schreibt in einem Brief an sie den Satz“Die Revolution wird grausam sein“, falls sie sich nicht ändern sollte.
Bei allem Detailreichtum lässt sich Zweig aber immer auch genug Raum für seine persönlichen Ansichten. Ob es hier Marie Antoinette ist oder Ludwig XV, ob die Dubarry oder Kaiser Joseph II, ob Friedrich der Große oder Maria Theresia: wie Zweig ganz persönlich die Rolle dieser Darsteller im Drama sieht, wie er ihren Charakter oder ihre Verhalten sieht, das lässt er seine Leserschaft stets unverblümt wissen.
Es sind zwei Themenbereiche, denen sich Stefan Zweig sehr umfangreich widmet:
- Die Last der Herkunft: Marie Antoinette ist durch ihre Erziehung und das ihr eingetrichterte Bewusstsein, einer uralten, unantastbaren Familie anzugehören, bis kurz vor dem Ende nicht in der Lage, die veränderten Umstände im Land wirklich zu begreifen.
- Die Revolution, die sich mit unaufhaltsamer Dynamik von dem Wunsch nach Veränderung und Gerechtigkeit zu einem blutrünstigen Tribunal gegen alles und jeden entwickelt.
Für meinen Geschmack aber viel zu weit lehnt Zweig sich hinaus, wenn er versucht, die Ursache für den unsteten Lebenswandel Marie Antoinettes zu finden. Es sei der sieben lange Jahre andauernde vergebliche Versuch gewesen sein, einen Thronfolger auf die Welt zu bringen, der Marie Antoinettes seelischen Gleichgewicht aus der Balance gebracht hätte (Obwohl doch ganz klar war, auch für Marie Antoinette, dass es ein körperliches Gebrechen Ludwigs XVI die Ursache dafür war).
Mit dem Satz (S. 42) „So bedarf es keines Nervenarztes, um festzustellen, dass ihre verhängnisvolle Überlebendigkeit, [..] geradezu klinisch typische Folgen jener ständigen sexuellen Aufheizung und sexuellen Unbefriedigtheit durch ihren Gatten darstellen.“ zeigt Zweig einen befremdlichen Chauvinismus, nach dem das Wohlbefinden der Frauen in der Hand des Mannes läge. Nun ja …
Die Gemälde der Zeit vermitteln kein eindeutiges Bild von Marie Antoinette. Ein Versuch, mit digitalen Mitteln ein Porträt der Königin zu rekonstruieren, findet sich auf Youtube: