Buchbesprechung/Rezension:

Christian Grataloup: Die Erfindung der Kontinente
Eine Geschichte der Darstellung der Welt

Christian Grataloup: Die Erfindung der Kontinente
verfasst am 23.09.2021 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Grataloup, Christian
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
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Der Titel „Die Erfindung der Kontinente“ mag etwas verwirren, der Untertitel „Eine Geschichte der Darstellung der Welt“ macht es schon weitaus deutlicher: das Buch fasst zusammen, welche Erkenntnisse die Menschen über die Jahrtausende gewannen und wie sie daraus die Welt bildhaft darstellten.

Die Darstellung der Welt geht einher mit der Erweiterung des Horizontes der Menschheit. Unser heutiges Wissen über die Kontinente, die Kontinentaldrift, unsere heutige Einteilung der Welt ist das vorläufige Endergebnis aller möglichen Entwicklungen. Von religiösen Dogmen über Entdeckungsreisen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen bzw. gesellschaftlichen Einflüssen: ein Globus, ein Atlas oder eine Online-Landkarte des Jahres 2021 zeigen ein völlig andere Welt als sie vor 500, 1.000, 2.000 oder noch mehr Jahren bekannt war.

Der Geograf und Historiker Christian Grataloup hat mit diesem Buch eine umfassende Geschichte der Darstellung der Welt verfasst. Dass er dabei hauptsächlich eine eurozentrische Sicht beschreibt, ist einerseits natürlich seiner eigenen Herkunft geschuldet, folgt aber andererseits auch der historischen Entwicklung, die wir am besten verstehen. Europa im Zentrum unsere Landkarten ist das, was wir alle aus der Schule kennen.

Wie es zu dieser Darstellung kam, wie sich aus kleinen, regionalen „Skizzen“ immer umfangreichere Darstellungen entwickelten, das lässt sich im Buch Schritt für Schritt nachverfolgen.

Dabei zeigt Grataloup immer wieder vor allem eines: Die heute gültige Einteilung der Kontinente war und ist die Folge von Entscheidungen, viel mehr als dass sie aus geografischer Sicht das einzig gültige Modell der Welt wäre. Bestes Beispiel dafür ist der Ural, der die Grenze zwischen Europa und Asien bildet – eine Grenze, die, so man sie denn überhaupt ziehen muss, auch an einer anderen Stelle liegen könnte. Indien könnte demnach ebenso ein eigener Kontinent sein, wie Europa ein Subkontinent von Asien sein könnte, so wie es für Indien festgeschrieben wurde.

Doch unsere Vorfahren betrachteten Europa als das Zentrum der Welt – unseren Kontinent als Anhängsel eines anderen zu sehen, wäre damit völlig undenkbar und mit dem Selbstverständnis unvereinbar gewesen. Europa, Asien und Afrika waren schon in der Antike bekannt, die Welt somit dreigeteilt – dem folgten dann auch die frühen Kirchenfürsten des Christentums, wobei diese Dreiteilung sich auch gleich mit den drei Söhnen Noahs vereinbaren ließ, die nach der Sintflut, wie es die Bibel beschreibt, in unterschiedliche Richtungen aufbrachen.

Es ist eine festgefügte Welt, deren vermeintliche Vollständigkeit sich ab dem späten Mittelalter aufzulösen begann. Die Entdeckungsreisen über die Ozeane und in das Innere der Kontinente eröffneten in atemberaubendem Tempo (wenn man es mit dem beinahe statischen Zustand über viele Jahrhunderte davor vergleicht) den Blick auf neue Welten. Sind die Karten aus der Antike meistens symbolhafte Darstellungen von Einflusszonen, bestenfalls mit wirklichkeitsnaher Darstellung des Mittelmeerraumes samt angrenzender Regionen, so lassen sich ab nun darauf Schritt für Schritt die weiter entfernten Landmassen erkennen. Wenn auch noch oft mit aus heutiger Kenntnis wilden Fantasien über Küstenlinien. Alte Welt, Neue Welt, Dritte Welt: Neue Begriffe für neues Land und dazu Landkarten, die oft schon nach ihrer Veröffentlichung von neuen Entdeckungen überholt worden waren.

Der geografischen Erweiterung folgte die Einordnung der neuen Länder und der dort wohnenden Menschen in das von Europäern festgelegte Schema. Ein Schema, das nicht nur Kontinente einteilt, sondern auch Menschen Rollen zuweist, wie sie dem Weltbild der Europäer entsprachen: aus den Entdeckern, die von hier aufbrachen, wurden Eroberer, dann Kolonialmächte und Sklavenhalter. Ein Erbe, das auch im Jahr 2021 noch lange nicht überwunden ist.

Das Buch ist eine überaus spannende Reise durch die Jahrhunderte. Zum einen die wissenschaftliche Basis, zum anderen das umfangreiche Bildmaterial – gesamt ergibt das ein wertvolles und äußerst lehrreiches Werk, in dem das Wissen und die Entwicklung des Wissens in klarer und übersichtlicher Form dargestellt werden. „Die Erfindung der Kontinente“ ist zwar kein Atlas, aber sehr wohl ein Nachschlagewerk, das man immer wieder zur Hand nehmen wird (ich jedenfalls gehe davon aus).

Aber, das sollte man nicht übersehen: auch wenn wir meinen, dass wir heute alles wissen und alles endgültig definiert erscheint, so wird eine Landkarte in 50, 100, 200 Jahren doch wieder anders aussehen. Küstenlinien werden in Folge des Klimawandels überschwemmt und es werden sich neue bilden. Wenn sich Landesgrenzen ändern, dann mögen sich sogar Definitionen von Kontinenten ändern. Und ja, natürlich, sorgen die Plattentektonik und der Vulkanismus für das Entstehen und Verschwinden von Landmassen.

Zum Inhalt passt auch die für ein (populär-)wissenschaftliches Buch ungewohnt wertvolle Aufmachung. Man hat tatsächlich – in gleich mehreren Aspekten – etwas schwergewichtiges in der Hand.

PS: nun haben sich zwar unzählige gescheite Menschen über die Jahre intensiv mit dem Aussehen der Welt befasst und es immer besser erkannt, aber unsere Zeit bringt doch wieder Leute hervor, die absolut davon überzeugt sind, dass die Erde eine Scheibe ist. Womit der zumindest Beweis erbracht ist, dass Evolution beim Homo Sapiens auch rückwärts ablaufen kann.




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