Ilsa Barea: Wien. Legende und Wirklichkeit
Autorin/Autor: Barea, Ilsa
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Noch ein Buch über Wien? Dann kennt man doch alles schon, hat alles gelesen oder in Dokumentationen gelesen?
Ganz falsch, es gibt noch so unglaublich viel zu erzählen, was in diesem Buch unter Beweis gestellt wird.
Wien, man folgt gebannt der Erzählung, war eben über den größten Teil seiner Geschichte hinweg ein ganz andere Stadt, als das „Ringstraßen-Wien“, wie wir es heute kennen. Klein, abseits des wichtigen Geschehens gelegen, wurde Wien erst sehr langsam zum Machtzentrum einer größeren Region. Die Auseinandersetzung zwischen dem Bürgertum und dem Herrscherhaus, die stete Einschränkung der Rechte der Bevölkerung durch Adel und Kaiser, die über Jahrzehnte andauernde Änderung in der Bevölkerungsstruktur hin zu den dann auch noch in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie aufrechten Standesunterschiede, der Macht des Beamtenapparates und des Militärs.
Ilsa Barea schaffte es mit diesem Buch, die Jahrhunderte auf etwas mehr als 400 Seiten so kompakt und so überschaubar darzustellen, dass man meint, erstmals überhaupt zu verstehen, wie Wien und die Menschen der Stadt zu dem wurden, was sie heute sind (bzw. zu dem wurden, was sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts waren, als dieses Buch veröffentlicht wurde). Der Reiz ihrer Erzählung entsteht aus dem Zusammenführen aller Lebensbereiche: Kunst und Literatur, Religion und Politik, Handel und Wissenschaften, Revolution und Vergnügungen, Unterdrückung und Freiheit – es ist die alles umfassende Geschichte der Stadtentwicklung und der sozialen und gesellschaftlichen Strömungen.
Eingebettet in den großen historischen Rahmen sind Kurzbiografien von Wiener Künstlerinnen und Künstlern und solchen, die sich Wien als Wirkungsstätte ausgewählt hatten. Schubert, Grillparzer, Mozart, Beethoven, Raimund, Girardi, Raimund und viele mehr: sie wurden von der Stadt beeinflusst und beeinflussten die Stadt. Dazu noch die Porträts von Menschen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die ihre Spuren in Wien hinterlassen haben.
So viele Teilbereiche, aus denen die Autorin ein ganz wunderbare „Lebensgeschichte“ der Stadt und seiner Bewohner komponierte. Darin wird auch sehr deutlich, was aus der Vergangenheit im Wesen der Menschen und der Struktur der Stadt bis heute wirkt. Viele der Namen sind uns heute noch geläufig, viele waren zwar zu ihrer Zeit bedeutend, gerieten aber in Vergessenheit
Die Leidenschaft, mit der dieses Buch geschrieben wurde, ist in jeder Zeile zu spüren, es ist detailreich und voller interessanter Details und das Ergebnis einer wohl enorm aufwändigen Recherchearbeit.
Nicht leicht lesbar, weil es ganz einfach so viel zu erfahren gibt, weil so viele Verbindungen beschrieben sind, weil der Zeitraum der Betrachtung viele Jahrhunderte umfasst (wenn auch dem 19. Jahrhundert der meiste Raum gegeben wurde). Aufgefüllt mit vielen kleinen Geschichten und Details, die wichtig sind, um das Gefühl für die jeweilige Atmosphäre in der Stadt zu bekommen. Kein Buch also, das sich schnell einmal durchblättern lässt; will man neues erfahren oder über Zusammenhänge lesen, die einem vielleicht bis jetzt entgangen sind, so benötigt an Zeit und Geduld.
Die Belohnung ist dann viel neues Wissen, das dazu noch mit einer merkbaren Begeisterung niedergeschrieben wurde, die auf die Leserinnen überspringt.
Ein spannendes Geschichtsbuch, das viele Winkel der Stadt Wien beleuchtet, in die man sonst nicht oder nur sehr selten einen Blick werfen kann. Voller Elan manövriert Ilsa Barea ihre Leserinnen und Leser durch die Jahrhunderte, was dann und wann den Kopf schwirren lässt angesichts der schieren Menge der Informationen. Dann heißt es kurz Pause zu machen bevor man sich das nächste Kapitel vornimmt.
Die Informationsfülle und das Erzähltempo sind zugleich fordernd und unglaublich reizvoll. Man liest eine Stadtchronik der besonderen Art, in der humorvolle Anekdoten und Alltagsgeschichten auf historische Momente und entscheidende Weichenstellungen treffen.
PS: Interessant ist auch die Geschichte des Buches selbst. Es erschien schon im Jahr 1966 in englischer Sprache in London. Barea war im Jahr 1939 nach England geflüchtet und kehrte erst im Jahr 1966 nach Wien zurück. Erst jetzt, im Jahr 2021, 55 Jahre nach der Erstveröffentlichung, erscheint nun erstmals eine deutschsprachige Übersetzung.