Buchbesprechung/Rezension:

Sebastian Barry: Tausend Monde

Tausend Monde
verfasst am 25.02.2022 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Barry, Sebastian
Genre:
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Indianer zu sein bedeutete, kein Mensch zu sein: weder vor den Augen des Gesetzes, noch in den Augen der Weißen. Indianer standen noch weit unter den Schwarzen, den befreiten Sklaven – damals in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts.

Ein Western aus der Zeit nach dem Sezessionskrieg, aus der Zeit der Gesetzlosigkeit, in der sich jeder nahm, was ihm gefiel und nicht erst lange fragte, ob das rechtens war oder nicht.

„Tausend Mondes“ ist die Fortsetzung von Barrys Roman „Tage ohne Ende“. Es ist sehr zu empfehlen, zuerst „Tage ohne Ende“ zu lesen, weil in dieser Fortsetzung vieles nicht mehr so ausreichend erklärt wird, um alles umfassend zu verstehen.

Auf einer heruntergekommenen Farm irgendwo in Tennessee lebt Winona, 16 Jahre ist sie wahrscheinlich alt, wer weiß das schon genau. Geboren wurde sie als Lakota, die ersten Lebensjahre trug sie den Namen Ojinjinztka, doch das konnte keiner der Weißen aussprechen. Als ihre ganze Familie, ihr ganzer Stamm von den Soldaten umgebracht worden war, kam Winona zuerst ins Fort und dann mit den Ex-Soldaten Thomas McNulty und John Cole auf Lige Magans Farm in der Nähe des Städtchens Paris. Für Thomas und John ist sie wie eine Tochter, sie liebt die beiden wie Väter. Dass es aber durchaus möglich ist, dass die beiden während ihrer Zeit bei der Armee Winonas Familie getötet haben, das bleibt unausgesprochen.

Als Winona das erste Mal Gefühle für einen jungen Mann empfindet, endet das in einer Katastrophe, Winona wird vergewaltigt, doch ihre Erinnerung daran ist undeutlich, sie ist sich nicht sicher, ob es sich beim Täter um ihren Verehrer handelt. Winona hätte zuvor nie daran gedacht, dass man ihr Gewalt antun würde, nur weil sie in den Augen der Weißen gar kein Lebewesen mit eigenen Rechten wäre.

Die Realität ist, dass der amerikanische Bürgerkrieg zwar noch nicht lange vorbei, die Freude über den Sieg des Nordens und das Ende der Sklaverei jedoch längst verflogen ist. Schwarze und Indianer – beide sind in den Augen vieler Weißer nichts wert, sie sind nicht einmal richtige Menschen, man kann sie töten oder misshandeln, ohne Strafe fürchten zu müssen.

In Tennessee wird der Rassenhass zudem noch vom Gouverneur befeuert, die ehemaligen Rebellen und nun aktiven Mitglieder des Ku-Klux-Klans genießen unter der aktuellen Regierung hohes Ansehen. Die Uhr wird wieder zurückgedreht. Sebastian Barrys Wilder Westen bietet keine edlen Helden und tapferen Männer, kein John Wayne und kein Gary Cooper, sondern nur Menschen, die einfach überleben wollen und andere, die sie terrorisieren.

Winonas Erzählung führt in eine Zeit der Unsicherheit, der Veränderungen. Alles ist in der Schwebe, welchen Weg die Menschen und das Land gehen werden, lässt sich kaum vorhersehen. Es ist die Zeit, in der einerseits die unselige Geisteshaltung der weißen Herren unverändert ist, andererseits begibt sich ein Teil der Menschen schon auf den Weg in die Zukunft, in der Sklaverei und Übergelegenheitsdenken überwunden werden. Rache und Vergebung, Frieden und Gewalt – alles zur selben Zeit.

Winona selbst beginnt sehr langsam diese Welt der Weißen zu verstehen, die so ganz anders funktioniert, als die Welt der First Nations, aus der sie stammt. Die Ungerechtigkeit, die ihr und ihren Freunden, die ihrer Familie widerfährt, lässt auch sie an Rache denken. Sie macht sich auf den Weg, um den zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen, der einen ihrer Freunde beinahe zu Tode geschlagen hat, nur weil der eine andere Hautfarbe hat.

Alles geschieht vor dem Hintergrund der Beschreibung der Lebensumstände jener Zeit. Das liest sich absolut realistisch und belegt die umfangreichen Quellen, in denen die Sebastian Barry für diesen Roman recherchierte. Man erlebt den Westen, wie er wirklich war, abseits aller verkitschten oder romanischen Übermalungen.

Beim Lesen musste ich tatsächlich oft an die Verhältnisse in den USA der Jetztzeit denken. Diese Weißen, die sich für überlegen halten, diese Typen, die erst mit einer Waffe in der Hand mutig werden – die gibt es immer noch, man hat den Eidnruck, dass es immer mehr gibt. Mit einem Roman wie diesem versteht man, dass diese Charakterlosigkeit und das Fehlen jeder Moral seit jeher das Fundament des Selbstverständnisses viel zu vieler Amerikaner waren und sind. Wer auf Jahrhunderte voller Hass auf alles andere zurückblickt, verweigert sich dem Blick auf die Wirklichkeit, die doch nur das ganze eigene Selbstverständnis zerstören würde.

So wie Winona, so müssen sich die meisten Amerikaner auch heute noch die Frage stellen, wofür hunderttausende Soldaten im Bürgerkrieg ihr Leben ließen, wenn 150 Jahre später der gleiche weiße Pöbel unterwegs ist und sich als überlegene Rasse fühlt. Nur nennen sie sich nicht mehr Ku-Klux-Klan, sondern QAnon oder Proud Boys oder gehören irgend einer Neonazi-Gruppe an.

„Tausend Monde“ ist einfach ein großartiger Roman, der eine regelrechte Sogwirkung erzielt. Dieser Gegensatz der sanften Erzählung Winonas zu der Beschreibung der oftmals brutalen Realität in den 1870er-Jahren; immer blitzen dazu Bilder aus unserer Gegenwart auf, wenn von der Unmenschlichkeit der Mitglieder von Gruppen weißer Extremisten zu lesen ist. Ein Roman über damals, genauso wie über heute.




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