Richard David Precht, Harald Welzer: Die vierte Gewalt
Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist
Autorin/Autor: Precht, Richard David
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Luis
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Sind die Medien, sind wir vom Staat oder irgendwelchen Geheimgremien gelenkt? Die beiden Autoren Richard David Precht und Harald Welzer entwickeln in ihren Analysen, anhand von aktuellen Beispielen, das klare Ergebnis: NEIN. Sind die Medien (vor allem wurden die deutschen Leitmedien untersucht) deshalb frei und bekommen wir gut recherchierte oder gar objektive Berichte? Das Ergebnis: NEIN
Presse, Rundfunk und TV-Nachrichten
„sollten Informationen verbreiten, die an die Stelle von Gerüchten und Spekulationen treten. … Sie sollten das Tun und Lassen der Regierung und der gewählten Volksvertreter überprüfen. … Presse und Rundfunk sollen die Geplagten umsorgen und die Umsorgten plagen, damit jene eine Stimme bekommen, die sonst in der Öffentlichkeit keine haben.“
Warum das nicht so ist, bzw. welche Einflüsse, Mechanismen und Netzwerke die Leitmedien mehr und mehr zu einer gleichgeschalteten Propagandamaschine verkommen lassen, zieht sich über 288 Seiten als roter Faden durch das philosophisch- sozialpsychologische Werk, über zweihundert Anmerkungen zeugen vom wissenschaftlichen Hintergrund.
„Die von Habermas beschriebene und gelobte ‚Gegenöffentlichkeit‘ – die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit jenseits des Mainstreams – verliert heute ihr ‚Gegen‘. Direktmedien opponieren nicht gegen den Alleinvertretungsanspruch der Vierten Gewalt, sondern sie mischen fleißig mit und zerstückeln damit die nicht zuletzt von Politikern liebgewonnene Deutungshoheit.“
Auch wenn die beiden Autoren die deutschen Leitmedien untersuchen und ihr Schlüsse daraus ziehen, sind die Verhältnisse in Österreich durchaus vergleichbar. Die Schwarz-Weiß-Berichte über die Beispiele Flüchtlingskrise von 2015, die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine (zu den Kriegen werden frühere mediale Einheitsberichte erwähnt) wurden und werden in Österreich ebenfalls meist gleichgeschaltet veröffentlicht. Journalist:innen und Medien wandeln im Tunnelblick. Im Zwang schnell sein zu müssen, und vor allem in den Online Medien, adressieren Jornalist:innen ihre Texte immer öfter an ihre Kolleg:innen und arbeiten an ihrer eigentlichen Zielgruppe, der Öffentlichkeit, vorbei. Gleiches gilt für politische Verhaberungen. Sie führen einen leitmedialen Elitediskurs, benötigen dafür keine Anweisungen – auch wenn es diese in einzelnen Medien durchaus geben mag (Raiffeisen, Felber, politische Parteien über Inserate, Musk, …). Subjektive Wahrheiten werden über Online-Medien, Presse- und Rundfunk verbreitet und je nach Stimmungslage von der Öffentlichkeit aufgenommen. Vielfach versuchen Journalist:innen nicht einmal, aus ihrer subjektiven Wahrheit eine recherchierte Wahrheit entstehen zu lassen.
Dass die Menschen in vielen kritischen Fragen keine eindeutige, sondern eine unentschiedene Meinung vertreten, kommt leitmedial kaum vor. Oft fehlen in den Kommentaren und Berichten die Graustufen der Meinungen in der Bevölkerung. Routiniert wird eine gespaltene Gesellschaft unterstellt.
„… die polarisierte und gespaltene Gesellschaft entsteht erst dadurch, dass Journalisten sie beschreiben. Und anschließend dadurch, dass die Diagnose von Zuschauern, Hörern und Lesern geglaubt wird.“
Gleichgeschaltet fördern die Leitmedien mit einem Großgruppendualismus Lagerdenken und Polarisierung. Was immer es ist, Bilder und Posts werden massenhaft zitiert, und daraus entstehen vermeintliche Fakten.
Die Vierte Gewalt ist in ihrer jetzigen Entwicklung (vor allem seit der massenhaften Verbreitung der Online-Medien) eine Gefahr für die Demokratie. Wie in der Debatte über die Klimakrise, stellt sich die Frage, ob bereits eingetretenen Schäden reparierbar sind.
Ein Fachbuch ist ein Fachbuch und verlangt strukturiertes Lesen. Allen, denen Demokratie und Meinungsvielfalt Anliegen sind, empfehle ich es. Meine Vermutungen wurden in manchen Bereichen bestätigt, in anderen Abschnitten bekam ich erhellende Antworten. Zum Abschluss ein Zitat, wie wir am Beispiel scheinbarer Beteiligungen an schein-demokratischen Vorgängen beteiligt werden:
„Kein öffentliches Klo kann mehr ohne Aufforderung verlassen werden, einen Button der angebotenen Faszilität zu drücken. Und ganz gleichgültig, ob jemand von den Buttondrückern auch nur die allerentfernteste Ahnung davon hat, was die Arbeitsbedingungen des Reinigungspersonals sind – sie oder er darf ihre Leistung bewerten. … , dass es keinerlei eigener Kompetenz oder gar Qualifikation bedarf, um etwas beurteilen zu können. Es genügt, wenn einem etwas zusteht. Auch die Online-Portale der Leitmedien folgen diesem Prinzip.