Buchbesprechung/Rezension:

Nikole Hannah-Jones (Hsg.): 1619
Eine neue Geschichte der USA

1619
verfasst am 15.12.2022 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Hannah-Jones, Nikole
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:

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[Gesamt: 1 Durchschnitt: 5]

1619 war das Jahr, in dem ein Schiff, die White Lion,  im Hafen von Jamestown, Virginia, anlegte und im August zwanzig bis dreißig schwarze Sklaven auf den amerikanischen Kontinent brachte. Unter diesen zwanzig Menschen sind Anthony und Isabella und ihr Sohn William wurde der erste auf dem amerikanischen Kontinent geborene Sklave.

Das Zeitalter der Sklaverei hatte begonnen, doch dieser Umstand wurde von der US-Geschichtsschreibung mehr oder weniger stillschweigend übergangen. Viel mehr beachtet wurde und wird darin die Landung der Mayflower im November 1620 –  Das wird zu so etwas wie dem Gründungsmythos der USA stilisiert; doch wenn man über die Ursprünge der USA spricht, dann gehört die Sklaverei ganz eindeutig dazu. Für viele US-AmerikanerInnen sind die diversen Gründungsmythen so etwas wie göttliche Wahrheit – dass laut der Unabhängigkeitserklärung alle Menschen gleich wären, war jedoch niemals die Realität und schon solche Ikonen wie Washington oder Jefferson waren brutale Sklavenhalter.

„1619“ ist kein Geschichtsbuch, kein Roman, sondern eine Sammlung von Texten, die die bestehende Geschichtsschreibung der USA, die bislang einzig gekannte Geschichtsschreibung, um ein weiteres Standbein erweitern. Mit der Anerkennung der Bedeutung der schwarzen Bevölkerung von Anbeginn an und deren Einfluss auf das Entstehen des Staatswesens kommt die US-Geschichte quasi erst ins Gleichgewicht.

Ein unglaubliches Buch, weil es so viele Stimmen in sich vereint, weil es so viele Aspekte und Perspektiven zu einem klaren Bild verbindet.

Eingeteilt in Kapitel für einzelne historische Perioden, umfassen diese Kapitel jeweils einen historischen Abriss und literarische Werke (Lyrik und Prosa). Insgesamt 36 solcher kurzen Aufsätze, Gedichte und Kurzgeschichten ergänzen die historischen Vorgänge mit bewegenden Gedanken, Bewertungen, Gefühlen oder Erfahrungen.

Kein Wunder, dass nach der Veröffentlichung dieses Projektes in der „New York Times“ das Gebrüll der Rechten und der White Supremasists ohrenbetäubend war. Nimmt ihnen doch diese so enorm umfangreiche Aufarbeitung eine der Grundlagen ihres Selbstverständnissen: dass es nur die Weißen gewesen wären, die die USA erschufen.

Wahre Gründe für die Unabhängigkeitsbewegung

Es würde zu weit führen, auch nur einen Teil der bedeutendsten Abschnitte aus diesem Buch zu beschreiben. Für einen Europäer mit Teilwissen über die US-Amerikanische Geschichte finden sich aber einige Fakten, die aus diesem herausragenden Buch noch hervorstechen.

Zunächst natürlich die Jahreszahl 1619, die aber selbst den meisten AmerikanerInnen nichts sagt. Dann der Umstand, dass das Absichern des Systems der Versklavung ein bedeutender Grund für die Unabhängigkeitsbestrebungen war: Es war die Befürchtung führender Köpfe der in den Kolonien, dass Gerichte oder die britische Verwaltung die Sklaverei abschaffen könnte, die ganz wesentlich die Revolutionsbewegung anfachte, die zur Unabhängigkeit führte. Zynischerweise bezeichneten die Kolonisten, die tausende Menschen versklavten, sich selbst als Sklaven der Kolonialverwaltung.

Samuel Johnson [ … ] prägte* das folgende Bonmot: Wie kommt es bloß, dass just die Sklaventreiber der Schwarzen am lautesten nach Freiheit rufen?
* im Jahr 1775

Welche Bedeutung die Sklaverei für die Protagonisten der Unabhängigkeitsbewegung und die Repräsentanten des neuen Staates hatten, lässt sich daran ablesen, wie viel Energie und Zeit in die vermeintliche „Legalisierung“ und Absicherung dieses Systems gesteckt wurde.

Erst nach dem Lesen dieses Buches habe ich so richtig verstanden, was diese Fanatiker antreibt, die seit einiger Zeit in US-Schule bestimmte Bücher verbieten wollen, den Unterricht der „Critical Race Theory“ verbieten möchten und mit fundamental-religiösen, extremistischen Argumenten versuchen, die Bildung unter ihre Kontrolle zu bringen (unglaublich dabei ist natürlich auch, dass Elternvertreter in den USA ganz einfach bestimmen können, was unterrichtet wird; mithilfe von als besonders demokratisch gedachten Institutionen wird so die Demokratie unterhöhlt)

„1619“ ist der gelungene Versuch, ein Gesamtbild der Entstehung eines Staates zu erschaffen und zu nachzuweisen, das sich erst gegen die althergebrachten Lehrmeinungen und vor allem gegenüber der Lebensphilosophie vieler Weißer behaupten muss. Es zeigt nicht nur ein viel kompletteres Geschichtsbild, als es in den Lehrbüchern steht, sondern hilft auch dabei zu verstehen, woher die heute zu sehende Todesfeindschaft zwischen den beiden politischen Lagern in den USA entstammt.

Es zieht sich durch die Jahrhunderte …

Die Sklaverei wurde nicht mit dem Ende des Bürgerkrieges im Jahr 1865 abgeschafft. Sie machte nur Pause, wandelte sich und trat seither in immer neuem Gewand wieder und wieder hervor. Von einer Gleichberechtigung war in den Augen der Weißen auch in den Nordstaaten niemals die Rede, Rassentrennung, getrennte Lebensbereiche je nach Hautfarbe waren das Nachfolgesystem der Versklavung.

Die Autorinnen der einzelnen Abschnitte betrachten das Geschehen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. So wird man immer wieder zu Ereignissen zurückkehren, über die man schon zuvor gelesen hat, diesmal jedoch mit anderen Details und ergänzenden Beschreibungen.

So verdichtet sich Abschnitt für Abschnitt das Bild einer Gesellschaft, die im Inneren viel zu oft auf inhumanen, teils verbrecherischem Handeln aufbaut und einen wesentlichen Teil ihres Reichtums aus der Ausbeutung anderer errang. Die Versklavung von Menschen (neu ist in diesem Zusammenhang für mich, dass auch einige Völker der Native Americans schwarze Sklaven hielten) und die damit verbundene Unterdrückung von Millionen Menschen, zeigt sich in vielen Varianten: von der körperlichen Versklavung über die über Gesetze festgeschrieben Apartheid bis zur Polizeigewalt gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe. Versklavung endete nicht mit der Niederlage der Konföderierten im Jahr 1865, sie wurde nur in ein anderes Gewand gekleidet und hält sich in den Köpfen bis heute.

… bis heute

Seit Barak Obamas Präsidentschaft wurde es für viele Weiße in den USA so richtig deutlich, dass sie in einem Land leben, in dem es eben nicht mehr ausreicht, eine weiße Hautfarbe zu haben, um Erfolg und Einfluss zu haben. So war dann die Wahl des ersten schwarzen Präsidenten der USA nicht der epochale Schritt des Landes in eine Zukunft ohne Rassismus, sondern der Auslöser für das Erstarken dieses Rassismus, der letztendlich die Wahl Trumps ermöglichte.

Rassistische Organisationen wie der Ku-Klux-Klan und rassistische Gesetze (die beispielsweise in von Republikanern regierten Staaten die Wahlbezirke nach rassistischen Überlegungen neu einteilen), Racial Profiling und Ungleichbehandlung ziehen sich, die Nachrichten berichten auch im Jahr 2022 regelmäßig davon, bis ins 21. Jahrhundert.

Es ist erschütternd und macht sprachlos und wütend zugleich, diese alle diese Beispiele von Gewalt gegen Schwarze zu lesen. Eine organisierte Gewalt, an der sich entweder die Behörden direkt beteiligten oder die Behörden nicht tätig wurden und werden, um den weißen Mob zu stoppen. Auch dazu muss man nicht (nur) in den Geschichtsbüchern blättern, man findet in den aktuellen Nachrichten regelmäßig Berichte.

So sehr die Rechtsextremisten  -die sich auf die Unterstützung vieler PolitikerInnen aus der republikanischen Partei verlassen können – so sehr also diese Leute, oft noch angefeuert von evangelikalen Fundamentalisten, von ihrer vermeintlichen Überlegenheit fanatisieren und mit Gewalt ersuchen, einen Zustand herbeizuführen, den es nie mehr geben wird: Die USA ist und bleibt eine Nation der Diversität: damals – heute – morgen. Afrikaner, die nach Amerika verschleppt wurden, Nachfahren der First Nations, die immer wieder betrogen, ermordet und von ihrem Land vertrieben wurden, Menschen aus Ostasien, die ins Land geholt wurden, um die moderne Nation mit aufzubauen … diese Bevölkerungsgruppen und viele mehr sind alle da, sie werden bleiben und sie alle haben ein Recht auf ihre Geschichte und sie allen haben ihren unverzichtbaren Anteil am Entstehen und Aufbau der USA.

Dieses Projekt wurde mit dem Pulitzer Preis 2020 in der Kategorie Commentary (Für herausragende Kommentare unter Verwendung eines beliebigen verfügbaren journalistischen Tools) ausgezeichnet.

PS: es gibt für uns in Österreich keinen Grund zu meinen, dass wir besser sind. Für unsere Vorfahren waren über Jahrhunderte der Antisemitismus und die Ausgrenzung (und Auslöschung) von Minderheiten ganz alltäglich; auch das hat sich hierzulande in viel zu vielen Köpfen bis heute gehalten.




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