Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang
Autorin/Autor: Vuillard, Éric
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Die Liste der Untaten, Grausamkeiten und Verbrechen, mit denen die europäischen Staaten den Rest der Welt überzogen, ist schier endlos lang. Kolonien auf allen Kontinenten sorgten für steten Geldfluss nach Europa und waren überall das Instrument für Unterdrückung und Gewalt gegenüber der dort heimischen Bevölkerung.
Ein besonderer Aspekt ist dieser: Frankreich hatte die Besatzung durch Nazideutschland erst wenige Jahre zuvor hinter sich gelassen; und was war das Land von 1940 bis 1945 anderes als eine Kolonie? Kaum ist aber der Weltkrieg vorbei, machen sich die Franzosen auf, ihre alte Kolonialherrschaft in Südostasien wieder zu errichten; als wüssten sie nicht aus eigener Erfahrung, wie es sich unter einer solchen Herrschaft lebt.
Weniger in der öffentlichen Wahrnehmung präsent als der weitaus „berühmtere“ Vietnamkrieg der USA ist die diesem Krieg vorausgehende Kolonialherrschaft Frankreichs.
Das ist die Lage im Oktober 1950, der Indochinakrieg zwischen Frankreich und dem Việt Minh dauert bereits vier Jahre und wird noch vier weitere Jahre andauern. Die französischen Truppen werden mehr und mehr zurückgedrängt und erleiden hohe Verluste, nachdem seit Beginn des Jahres das seit dem Vorjahr kommunistische China und die Sowjetunion die Militärhilfe enorm gesteigert hatten.
In der Nationalversammlung in Paris ergehen sich die Abgeordneten, hier beginnt Éric Vuillard mit der Beschreibung des Geschehens, in Debatten über Sinn und Nutzen der französischen Okkupation, man diskutiert über das und jenes, aber wenig über das zugrundeliegende Unrecht, das man als Kolonialmacht begeht. Die Vorstellung, ein Staat wäre nur mächtig und bedeutend, wenn er Kolonien besitzt, vereint viele Abgeordnete aller Parteien, links, rechts und aus der Mitte. Eine Clique von alten Herren, ihr Netzwerk hält das Land im Griff, die aufstehen, um zu sprechen, reden von Ehre und vergleichen mögliche Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Indochina mit der Kapitulation Frankreichs im Jahr 1940. Ein Rückzug aus Indochina, das wäre nichts anderes als ein rückgratloses Handeln, wie man es mit dem Vichy-Regime verband, genauso ehrlos, eben einer stolzen Nation nicht würdig. Und überhaupt, Indochina aufzugeben hieße, auch die anderen Kolonien in Afrika aufzugeben. Nun, wir wissen, es folgten in den kommenden Jahren noch weitere Kolonialkriege und am Ende verlor Frankreich sie alle und damit diese Kolonien.
Hier wird man feststellen, bzw. stelle ich für mich fest, dass größeres Wissen um die Geschichte Frankreichs nach dem 2. Weltkrieg von Vorteil wäre, um dem Geschehen zu folgen. Ich unterbreche also immer wieder die Lektüre und lese mich durch verschiedene Publikationen, um Vuillards Erzählung besser folgen zu können.
Das haben alle Romane von Éric Vuillard gemeinsam, dass sie einen Spalt öffnen, durch den man den Blick auf ein historisches Geschehen werfen kann. Er stößt das Interesse an und beschreibt zum einen den großen Rahmen und zum anderen einige entscheidende Details, was geradezu dazu herausfordert, mehr darüber zu erfahren. Das Buch umfasst zwar nicht einmal 140 Seiten, mit der Recherche rundherum fordert dieses kleine Buch aber genauso viel Zeit und Beschäftigung wie ein umfangreicher „Wälzer“.
Ein Kapitel, beispielsweise, befasst sich mit dem desaströsen Auftritt des französischen Generals de Lattre, damals Oberbefehlshaber in Indochina, am 16. September 1951 in der NBC-Sendung Meet the Press, die von der Journalistin Martha Roundtree geleitet wurde, es muss eine desaströse Vorstellung des Generals gewesen sein, der kaum Englisch sprechen konnte. Leider habe ich dazu keine Videoaufnahme gefunden, doch schon wie Éric Vuillard es beschreibt, bekommt man einen tiefen Einblick, wie es ein Sinnbild dessen gewesen sein musste, wie sehr Frankreich sich in eine Situation manövriert hatte, aus der es durch längst überholte politische Ansichten kaum aus eigener Kraft herausfinden konnte. Jetzt stolpert der General radebrechend durch eine Fernsehsendung in einem Land, das zur selben Zeit in Korea in einen noch brutaleren Krieg verwickelt ist.
Was für eine Zeit, was für ein Desaster – Ost gegen West, Kapitalismus und Kommunismus überzogen die ganze Welt mit ihren todbringenden Machtinteressen – während man die Folgen des Weltkrieges noch nicht ansatzweise überwunden hatte.
Bald, zu Beginn des Jahres 1954, rückt ein Name ins Zentrum, der auch außerhalb Frankreichs gekannt wird: Điện Biên Phủ. Die Apokalyse, der Untergang, die finale Schlacht, in der Frankreichs Anspruch und Hoffnung auf einen ehrenhaften Abgang endgültig unter tausenden Toten begraben wird. 15.000 Soldaten unter französischem Kommando werden getötet, verwundet oder gefangen gekommen, noch mehr auf der Seite der Vietnamesen. Niemand kam heraus aus der Einkesslung durch die Việt Minh. Jetzt liest man hier die Chronik dieser Schlacht und ist entsetzt von der Ignoranz der Leute, von der Unabwendbarkeit der Vernichtung, vom Starrsinn der Befehlshaber, der Untätigkeit derer, die das alles hätten abwenden können und der Machtlosigkeit derer, die ein Ende des Blutvergießens fordern.
In der Tat ist Điện Biên Phủ weder eine vorübergehende Zuflucht noch ein Mittel zur Offensive, hier wird sehr wohl eine Armee an Ort und Stelle begraben.
(Seite 91/92)
Während ein Oberbefehlshaber nach dem anderen versucht, Frankreich ehrenhaft (ja, ehrenhaft, das musste schon sein) aus dem Krieg und aus dem Land herauszuziehen, kommt der nächste Kriegsteilnehmer Schritt für Schritt in Südostasien an. Zuerst schicken die USA Geld, dann Material, am Ende werde sie in die Fußstapfen der geschlagenen Franzosen treten. 1954 verschwanden die Franzosen, 1975 die Amerikaner. Zum Preis von Millionen von Toten.
Das Schicksal Südostasien in einem nur wenige Jahrzehnte zurückliegenden Zeitalter, das wir auch heute noch nicht überwunden haben, wird durch Éric Vuillards Text zu einem erschütternden Dokument über die Verdorbenheit und die Grausamkeit, mit denen die Welt überzogen wird. Hier am Beispiel Frankreichs, doch man wird noch viele andere finden, über die es ähnliches zu schreiben gibt.