Buchbesprechung/Rezension:

Michel Bergmann: Mameleben
oder das gestohlene Glück

Mameleben
verfasst am 04.03.2023 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Bergmann, Michel
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
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Dieses Buch geht ans Herz – weil es von Herzen kommt, was man in jeder Zeile merkt. Michel Bergmann erzählt über das Leben seiner Mutter und über das Verhältnis von Mutter und Sohn – dieses als Hassliebe zu bezeichnen wäre nicht richtig, beschreibt aber dennoch das Schwanken in der Beziehung der beiden.

Charlotte Bergmanns Leben führte sie durch die dunklen Zeiten, die so vielen Juden das Leben nahm, es führte sie, als eine der wenigen, hindurch in die Zeit danach, die für alle, die den Holocaust überlebt hatten, geprägt war und ist von den Erinnerungen daran. Charlotte hatte überlebt, aber – denkt sie so wie wohl viele Juden, die dem Morden entronnen sind – hat gerade sie es verdient?

Der biografische Teil des Buches beginnt mit dem Jahr 1916, Charlottes Geburtsjahr. Sie war sich dessen nicht bewusst, aber schon drei Jahre später raste, nachdem mit dem 1. Weltkrieg die erste Katastrophe des Jahrhunderts gerade geendet hatte, die nächste heran: die spanische Grippe, an der auch Charlottes Mutter starb.

Dann aber, dann konnte das unbeschwerte Leben beginnen. Die Zeit nach dem Krieg von vor der Machtübernahme der Nazis verhieß für alle Deutschen, als nichts anderes sahen sich Charlotte und Charlottes Familie, zunächst Optimismus und Zukunftspläne und das Verwirklichen der Träume. 1933 begann dann die dritte Katastrophe, schlimmer und unbarmherziger als alles zuvor: Wer gestern noch Freund war, ist heute Judenhasser. Für uns ist heutzutage kaum vorstellbar, wie radikal sich die Atmosphäre änderte, wie sich Menschen von heute auf morgen änderten – oder wie sie an einem neuen Tag ihrem lange versteckten Antisemitismus freien Lauf lassen konnten. Waren es nur die Deutschen? Nein, denn Charlotte, die nach Frankreich kam, erlebte auch dort den Antisemitismus, wie sie ihn auch in praktisch allen anderen Ländern Europas hätte erleben müssen, wenn auch nirgends so extrem, wie in Nazideutschland. Handlanger der Nazis gab es überall.

Das Buch ist eine Teil-Biografie, keine exakte Nacherzählung vom Leben von Bergmanns Mutter. Es ist eine Sammlung von Eindrücken und Erinnerungen von Charlotte, über Charlotte und zu einem ganz wesentlichen Teil auch der Betrachtung der Verhältnisse in unserer Gegenwart.

Ab den 1950er-Jahren, also ab der Zeit, als der kleine Michel Bergmann schon eigener Erinnerung berichten kann, wird es eine ganze Familiengeschichte. Ab nun ändern sich die Inhalte, das Ende des Krieges hat auch das Ende der Judenverfolgung gebracht (wenn auch nicht das Ende des Antisemitismus). Jetzt sind es die Geschichten über die Familie, das Auftauchen von Dagmar, Michels Stiefschwester, den frühen Tod des Vaters, die Geschäftstüchtigkeit der Mutter und nicht zuletzt über Michel Bergmann eigenes Leben. In das schon von Beginn an mehr durch Distanz als durch Liebe geprägte Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, mischen sich mit zunehmendem Alter von Charlotte, die stets etwas an beinahe allem auszusetzen hatte, immer mehr Unstimmigkeiten – obwohl das nicht wirklich erfreulich ist, so ist es dennoch manchmal unglaublich witzig beschrieben. Kapitel für Kapitel macht man sich auf diese Art ein klareres Bild von Charlotte, um sie am Ende wahrhaft vor sich zu sehen.

Die Momentaufnahmen aus einem knappen Jahrhundert sind die Puzzleteile eins Gesamtbildes über die nicht und nicht überwindbaren Ressentiments, in einer Bandbreite von Unwohlsein bis zu abgrundtiefem Hass, den in unseren so zivilisierten Ländern nach wie vor viel zu viele Menschen gegenüber Juden hegen (oder nur mühsam verbergen).

Wie man es schafft, solches an und für sich deprimierendes Geschehen dann doch mit Humor und Augenzwinkern zu erzählen, das zeigt Michel Bergmann. Natürlich kommt er auf die Ungerechtigkeiten und die Verbrechen zu sprechen, die an Juden begangen wurden, doch dazwischen nimmt er dem Grundtenor des Buches mit witzigen Sequenzen einen Teil der Härte.

Liest man aber über diese Ungerechtigkeiten und Verbrechen, dann ist es kaum zu ertragen. Dann ist der Zorn über so viele unsere Vorfahren und heutigen Zeitgenossen da, die in ihrem geifernden Antisemitismus nicht erkennen, wie dumm und abstoßend sie selbst sind.

Und dann wieder, im nächsten Kapitel erzählt Bergmann von den Gesprächen mit seiner Mutter und man kann nicht anders, als schallend zu lachen.

Wunderbar und beklemmend: Dieses Buch über das Leben ist einerseits leicht und beschwingt, andererseits schwer verdaulich. Das Leben der Charlotte Bergmann, geborene Meinstein, umfasste so ziemlich alles, was Juden im 20. Jahrhundert an Schrecklichem widerfahren konnte. Sie überlebte persönliche Verluste, Verwandte und Freunde wurden ermordet, sie musste Dinge sehen und miterleben, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können.

Ein unglaubliches Buch, in dem es Michel Bergmann gelingt, ohne Bitterkeit und Vorwurf eine Vergangenheit zu beschreiben, die wir nicht vergessen dürfen. Ein Buch, das zudem sehr nachhaltig beschreibt, wie wir uns an jene Menschen erinnern, die nicht mehr unter uns sind …




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