Buchbesprechung/Rezension:

Giuliano Da Empoli: Der Magier im Kreml

Der Magier im Kreml
verfasst am 17.04.2023 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Da Empoli, Giuliano
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Wer ist die reale Vorlage für Wadim Baranow. Oder ist er ganz einfach ein Querschnitt durch die Riege der Höflinge und Einflüsterer auf dem Hof des neuzeitlichen Zaren?

Wenn man die Nachrichten über Putin und seine Clique von Mitläufern und Kriegstreibern verfolgt, dann findet man in dem Mann, der sich im Hintergrund hält und von dort aus die Strippen zieht, die Eigenschaften gleich mehrere jener Männer aus dem Umfeld Putins (der im Roman meistens als „der Zar“ bezeichnet wird), die allesamt besser als Angeklagte vor einem Gericht als in führender Position eines Staates aufgehoben wären.

Baranow indes entscheidet sich, im Unterschied zu seinen realen Teil-Vorbildern, zum Rücktritt als Berater des Präsidenten, er verlässt das Machtzentrum im Kreml freiwillig. Er verschwindet einfach aus Amt und Öffentlichkeit. Aber anders als viele, die plötzlich unerklärlichen Unfällen oder Krankheiten zu Opfer fielen, ist Baranow am Leben.

(Giuiano Da Empoli verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff „Fake Democracy“ für das politische System Russlands, für das Baranow steht. Ein überaus treffender Begriff für den Zustand dieses Staates, wie ich finde)

Auf der Suche nach Quellen und Material zu Jewgenij Samjatins dystopischem Roman „Wir“ aus dem Jahr 1920, reist der Ich-Erzähler des Romanes nach Moskau. Was er vorfindet, das ist eine Realität gewordene dystopische Welt, ähnlich wie Samjatin sie vor einhundert Jahren beschrieb, nur eben zusammengebaut aus den modernen Mitteln von Kommunikation, Propaganda und Überwachung – das Russland Putins in den 2020er-Jahren.

Durch das Interesse für Samjatin wird Baranow auf den Ich-Erzähler aufmerksam und lädt ihn in seine Datscha. Die Unterhaltung, die beide führen, liefert tiefe Einblicke in das System, das Russland seit den Zeiten des Zarenreiches bestimmt. Mit Modifikationen zwar, aber die grundlegenden Methoden haben sich nie verändert.

Das System Putin

Baranow erzählt über seinen Großvater und seinen Vater und wie sich beide im jeweiligen System zurecht fanden. Dann über sich selbst, wie er sich zunächst ziellos seiner Zukunft entgegentreiben ließ. Er erzählt sein Leben aus der Sicht und Position eines Mitgliedes der privilegierten Klasse, die Lichtjahre entfernt von der Masse der Bevölkerung lebt. Hier die mit Geld, Erfolg und Beziehungen, dort die einfachen Leute in den verfallenden Häusern und Plattenbauten.

Es folgt sein Job beim Fernsehen und dann der erste Kontakt mit dem Mann, der Russland später dominieren sollte: Wladimir Putin. Es ist der Beginn eines gemeinsamen Weges, auf dem Baranow die kreativen Ideen und Strategien für die Öffentlichkeitsarbeit entwirft und auf dem Putin sich immer weiter zu dem entwickelt, was er immer war: Aus Putin, dem Technokraten an der Spitze des Geheimdienstes FSB wird Putin, der kompromisslose Machtmensch. Er wird zu einer modernen Reinkarnation aller seiner diktatorischen und brutalen Vorgänger und von allen lernt er.

Baranows Erzählung ist die Chronik des Aufstieges Putins anhand von tatsächlichen Ereignissen seit dem Jahr 1999, als der in der Öffentlichkeit gänzlich unbekannte Mann aus St. Petersburg vom damaligen Präsidenten Jelzin zum Ministerpräsidenten ernannt wurde. Die Bombenanschläge in Moskau im Jahr 1999 verschafften Putin die Gelegenheit (oder schuf er sie selbst?) sich als der Macher, als der kompromisslose Herrscher zu präsentieren, der er sein wollte. Es war die Initialzündung für einen ununterbrochenen Aufstieg. 

Aus der Erzählung erfährt man über die wirklichen Beweggründe Putins, dem es gelang, ähnlich wie Stalin, ein Klima der Angst ums sich herum aufzubauen, in dem die Gefolgsleute um die Zuneigung des Führers ringen. Man liest von einigen der Opfer, die dieser Weg forderte; wer von der Linie abweicht oder es wagt, sogar öffentlich Opposition zu betreiben, wird entfernt. Wer gegen Putin ist, wird zum Staatsfeind, man muss auf die kleinen Gesten achten, um rechtzeitig zu erahnen, ob man vielleicht in Ungnade fällt.

Baranow erzählt über die Vorgänge an entscheidenden Wegpunkten in Putins Herrschaft: über den Untergang der Kursk, den Krieg in Tschetschenien, die Olympischen Spiele 2014 in Sotschi (auch Hitler konnte 1936 in Berlin die Olympischen Spiele für die Propaganda nützen), den Überfall auf die Ukraine, die Kontrolle über die Oligarchen – es ist immer eine konsequente Linie, mit der Putin den Staat Russland aus der kaum entfalteten Demokratie in eine nach außen und innen aggressive Scheindemokratie umwandelte.

Kompromisslos nützte Putin die Schwäche der Demokratien zuerst im eigenen Land und dann gegen den Westen für den Ausbau der eigenen Macht. Wadim Baranow ist eine Figur, die quasi in sich alle die Propaganda-Organisationen vereint, die der Kreml unterstützt und anleitet. Er ist deshalb der richtige, um zu erklären, wie Russland die Meinungs- und Redefreiheit im Westen dazu verwendet, mit gefälschten Informationen und Meinungen die Stimmung bei uns zu manipulieren und aufzuheizen. Wie gut das gelingt, sieht man ja unter anderem am Erfolg der rechtspopulistischen Parteien.

Es ist eine einerseits sehr raffinierte Verknüpfung von stattgefundenen Ereignissen mit fiktiven Personen und Gesprächen. Andererseits ist es ein Roman, der tief hineinblicken lässt in die Welt des Wladimir Putin. Zu vielem liefert Giuliano Da Empoli Parallelen aus der russischen bzw. sowjetischen Geschichte, versucht er Erklärungen für das Handeln Putins und für den Charakter Putins zu finden.

Naturgemäß kommt so ein Roman nicht ohne Spekulationen aus.

Damit man sich selbst ein Bild von den Verhältnissen in Russland machen kann, findet man jedoch – aus meiner Sicht – in der Verbindung der täglichen Nachrichten, unserem Wissen um die Cyberaktivitäten Russlands, die historischen Fakten und die Äußerungen und Handlungen Putins und seiner Handlanger eine ausreichende Basis, um den Roman und die Erzählung Baranows richtig einordnen zu können.

Was am Ende steht ist das Faktum, dass nicht weit von unseren Grenzen entfernt eine von Macht berauschte Clique versucht, die eigenen Macht mit Gewalt und ohne jede Rücksicht auszuweiten. „Der Magier im Kreml“ beschreibt, wie es dazu kommen konnte.

„Le mage du Kremlin“ erhielt im Jahr 2022 den Grand Prix du roman der Académie française




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