Gerhard Loibelsberger: Zerrüttung
Ein Roman aus Wien im Jahr 1933
Autorin/Autor: Loibelsberger, Gerhard
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
Online bestellen:
Nur ein Szenario: Wie würde es uns heute ergehen, wie würden wir uns der Situation stellen, wenn ein Nachbarland (Italien) schon seit Jahren von einem faschistischen Diktator regiert wird und in einem anderen (Deutschland) soeben die Nationalsozialisten die Macht übernommen haben.
Bei uns in Österreich schwingt sich in diesem Szenario zeitgleich der Kanzler mithilfe der bewaffneten Heimwehren zum Diktator auf, schaltet das Parlament aus, setzt die Verfassung außer Kraft und beginnt, jede Opposition und die freie Presse zu verbieten. Vor ein paar Jahren, das vervollständigt das Szenario, haben zudem Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise viele Menschen in die Armut getrieben.
Kann man sich das vorstellen?
Gerhard Loibelsberger versetzt seine Leserinnen und Leser 90 Jahre zurück, ins Jahr 1933, mitten hinein in jene Zeit, in der es bei uns genauso wie oben beschrieben aussah. Was wir heute aus Geschichtsbüchern kennen, entwickelt sich hier im Stundentakt, von einem Tag zum nächsten. Zeitungen schreiben die Chronik des Untergangs der Freiheit des Einzelnen und des Aufstieges von Gewalt und Unterdrückung zu den bestimmenden Werkzeugen des Staates.
Erzählt wird alles aus der Sicht von Joseph Maria Nechyba, ehemaliger Oberinspektor und jetzt Ministerialrat im Ruhestand, und aus der von Engelbert Novak, dem Ober in Nechybas Stammcafe.
Es sind Tage, an denen man sich am liebsten zu Hause einschließen möchte, nichts hören, nichts sehen, nur warten, bis alles wieder seinen normalen Gang geht. Doch im Jahr 1933, nur wissen es die Menschen noch nicht, erleben alle erst den Anfang eines Alptraumes, der mehr als zwölf Jahre dauern wird.
Über die Grenze kommen die Nachrichten aus Deutschland, wo die Nazis ihre Macht und ihre Ideologie mit unglaublicher Rasanz verbreiten. In Österreich bekriegen derweil einander Austrofaschisten und Nazis und alle die Sozialdemokraten. Die Angst geht um, dass auch hierzulande die Nazis die Macht übernehmen. Niemand wird dann mehr sicher sein, der nicht die Einstellung, Herkunft und Lebensweise hat, die den Nazis genehm ist. Es wäre alles noch schlimmer, als das, was Dollfuß und seine Gefolgsleute jetzt schon erzwingen wollen. Im Jahr 1938, beim sogenannten „Anschluss“ wird sich herausstellen, dass die Nazis die Institutionen Österreichs längst großflächig unterwandert hatten – 1933 ist dieser Prozess bereits im Gang.
Alle diese historischen Fakten integriert Loibelsberger so gelungen in seine Erzählung, dass der gesamte Roman wirkt, als wäre es ein Bericht über durchwegs reale Ereignisse und Vorgänge. Das wird noch unterstrichen durch viele wörtliche Zitate aus der Zeit. Man erfährt also direkt beim Lesen, quasi in Echtzeit, was sich wann ereignete und wann die Menschen davon erfuhren.
Der neunte Roman mit dem Oberinspektor Joseph Maria Nechyba ist, anders als seine Vorgängerromane, kein Krimi, sondern ein eindrucksvoller historischer Roman. So eindrucksvoll, dass er ein überaus passender Lesestoff für jene wäre, die sich einen „Starken Führer“ wünschen – „Zerrüttung“ führt vor Augen, was dabei herauskommen kann.
In einer Nebenrolle: Die andauernd meckernde und stichelnde Frau Nemeth erinnert mich an den Kaisermühlen-Blues. Hier ist sie aber mehr als nur eine übellaunige Hausbewohnerin – sie ist auch so etwas wie der Prototyp der Denunzianten, die in Diktaturen immer ihre Blütezeit haben.