Steffen Kopetzky: Damenopfer
Autorin/Autor: Kopetzky, Steffen
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Die Jahre des Überganges von Lenin zu Stalin. Die Zeit der enthusiastischen Revolutionäre, die von einer Weltrevolution träumen und in der man die Opfer der Revolution als unvermeidlich ansah, zugleich aber selbst schon darauf achtete, vorsichtig bei dem zu sein, was man tat oder sagte.
Es sind die 1920er-Jahre in der neu entstandenen Sowjetunion, als sich die Bolschewisten in einem brutalen Bürgerkrieg endgültig gegen ihre Gegner durchgesetzt hatten. Es ist die Zeit, als Lenin nicht mehr in der Lage war, seine Funktion auszuüben, als man Trotzki nochmals seinen legitimen Nachfolger sah, während Stalin seinen Aufstieg an die Spitze des Staates schon begonnen hatte.
Steffen Kopetzky verfasste diesen Roman rund um das Leben von Larissa Reissner (1895-1926), der ersten weiblichen Kommissarin in der Roten Flotte. Reissner wurde nur knapp dreißig Jahre alt, sie erlebte und beeinflusste als Journalistin, Diplomatin, Autorin, überzeugte Bolschewisten und einige der wenigen Frauen, deren Stimme man damals hören wollte, die Jahre der Umwälzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in denen die Weichen für eine ganze nachfolgende Epoche gestellt wurden.
Darum geht es in diesem Roman: die Schilderung eines Lebens inmitten sich rasant verändernder Bedingungen. Mit einer Mischung aus fiktiver und realer Biografie von Larissa Reissner dringt Steffen Kopetzky tief ein in die Lebensumstände in der Sowjetunion und im Nachkriegseuropa, trifft Menschen, die sich zum einen den Aufbruch in eine strahlende Zukunft erhoffen, die jedoch meistens den ganzen Umfang der neuen Verhältnisse noch nicht begreifen können.
In den Begegnungen mit Larissa Reissners Bekanntschaften und Liebschaften lassen sich diese Verhältnisse ganz großartig beschreiben, lässt sich das Land, das gerade dabei ist von einer Form der Diktatur in eine andere zu treiben, ein wenig verstehen. Die historisch belegten Momente füllt Kopetzky, mangels tiefer gehender zeitgenössischer Quellen, nahtlos mit wenn schon nicht stattgefundenen, dann doch durchaus möglichen Ereignissen.
Es entsteht daraus ein überaus real erscheinendes Bild der Lebensumstände eines kleinen Zirkels von Menschen – Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller, Aktivisten – die allesamt sehr gerne über das Wesen der Arbeit und die Träume der Arbeiter reden; darüber reden, aber selbst kaum Berührungspunkte mit den Arbeiterinnen und Arbeitern der Sowjetunion haben, deren Hände diese Utopie des Kommunismus Wirklichkeit werden lassen sollen.
Eine der Stationen des umtriebigen Lebens der Reissner ist als Botschafterin in Afghanistan. Dort entdeckt die – jetzt befinden wir uns im Bereich der Fiktion … oder nicht? – die Aufzeichnungen eines deutschen Offiziers, der Pläne für eine Invasion des britischen Herrschaftsbereiches auf dem indischen Subkontinent erstellt hatte. Sie macht sich auf die Suche nach dem Mann, der in ihren Augen den Schlüssel für den Sieg der Weltrevolution in Händen hält. Denn ein Zusammenbruch des Britischen Empire würde zweifelsfrei den Weg frei machen für Revolutionen auf allen Kontinenten.
Ihre Suche führt sie, mit Zwischenstationen, auf eine Datscha in der Nähe Moskaus, wo sich eine Runde aus Literaten und Intellektuelle zusammengefunden hat. Dort kommt es dann zum schicksalhaften Zusammentreffen mit dem Mann, der ihr bei der Suche weiterhelfen soll: Karl Radek.
Liest man über die Vergangenheit in Geschichtsbüchern, so findet man dort normalerweise zusammengetragene Fakten, Analysen, vor allem aber ein Auszug dessen, was aus Sicht der Nachwelt (also aus unserer Sicht) erinnernswert und/oder bedeutend ist. Kopetzky setzt hier ein viel dichteres Bild der Zeit zusammen, das in seiner Summe ein, wenn schon nicht gänzlich tatsachengetreues, dann doch eines ist, das Atmosphäre und Vorgänge überzeugend wiedergibt. Man liest nicht nur eine romanhafte Biografie des Lebens von Larissa Reissner, betrachtet aus unterschiedlichen Blickwinkeln, sondern damit verbunden auch der Menschen ihres Umfeldes. Die Grenze zwischen historischer Realität und fiktionaler Erzählung ist fließend. So weiß man zwar, dass das gelesene Gesamtbild den 1920er-Jahren entspricht, kann aber kaum zwischen Dichtung und Wahrheit trennen.
Die Begegnungen, die Reisen und Gespräche der Reissner führen direkt in die Zeit, als der Enthusiasmus, als der Glaube an eine utopische neue Welt noch lebendig waren und noch nicht unter dem Stalinismus begraben. Larissa Reissner verstarb im Jahr 1930 an Tuberkulose, bevor sich die Illusionen von einer Welt der Gleichgestellten im Terror unter Stalin auflöste, und entging damit, man kann es annehmen, dem Schicksal, das viele ihrer Freunde ereilte. Was sie also mehr erlebte war, wie die Revolution, wie Stalin zum Massenmörder wurde und wie die Revolution, die die Freiheit bringen sollte, zum Kerker Sowjetunion wurde.
Das Leben der Larissa mag heutiger Sicht vielleicht nicht mehr als eine Fußnote der Geschichte unter vielen sein. „Damenopfer“ lässt aber erahnen, dass sich die Welt des 20. Jahrhunderts auch anders entwickeln hätte können. Damals, vor ziemlich genau einhundert Jahren, schwirrten so viele Fantasien über die Zukunft durch die Köpfe der Menschen, dass am Ende immer ein Zufall dabei mitspielte, welche Richtung die Welt einschlug.
Wie schon in seinen bisherigen Romanen: Steffen Kopetzky versteht es unglaublich meisterhaft, Fiktion und Realität zu verbinden und daraus etwas zu schaffen, dass die Vergangenheit begreifbar, verständlich macht. Wenn auch vieles davon der Fantasie entspringt, so ist doch nichts dabei, das den Rahmen einer möglichen alternativen Vergangenheit sprengt. Ja, so hätte es sein können …
PS: Man kann/sollte nach dem Lesen nachschlagen, wer von den im Roman vorkommenden Personen das Regime Stalins überlebte. Die meisten, so wird man feststellen, kamen bei einer der vielen Säuberungen ums Leben.