Suzette Mayr: Der Schlafwagendiener
Autorin/Autor: Mayr, Suzette
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Es sind die 1920er-Jahre, die Zeit, als die zum Ende des Jahrzehnts die ganze Welt noch die Folgen der Wirtschaftskrise zu bewältigen hatte. Glücklich, wer in solch einer Zeit einen Job hat, so schlecht er auch bezahlt sein sollte und so sehr man den Launen der Vorgesetzten ausgesetzt ist.
Baxter ist „Schlafwagendiener“ *), schon die Bezeichnung seines Berufes verrät, welche Position er in der Hierarchie einnimmt. Weit unter dem Schaffner des Zuges, eben ein Diener der Fahrgäste, die, es sind die 1920er, einen Diener wirklich nur als einen Bediensteten, gewissermaßen als kein menschliches Wesen im engeren Sinn, sondern als Inventar wahrnehmen. Dazu ist Baxter noch schwarz, ein Glück, dass er in Kanada lebt und arbeitet und nicht im Süden der USA, da wäre er in den Augen der Weißen noch weniger wert.
Es gibt einen Teil seines Lebens, der für ihn besonders gefährlich werden kann. Nicht nur die Bewertungen der Fahrgäste (ein System an Negativpunkten führt bei zu viel Beschwerden zwangsläufig zum Jobverlust) sind ständige Bedrohung, sondern auch seine Leidenschaft, die ihn noch mehr zu einem Außenseiter machen würden, wäre sie bekannt. Baxter liebt Männer, dafür würde man ihn ins Gefängnis stecken, käme es heraus. Dann wäre es auch vorbei mit seinem Traum, Zahnarzt zu werden. Nur dafür nahm er diesen Job an, dafür arbeitet er, um sich das Studium leisten zu können.
Wirkliche Erinnerungen und Fantasien wechseln einander in Baxters Gedanken ab, die Grenze von Tag und Nacht verschwimmt unter dem eintönigen Rattern des Zuges, jedes Wort muss er abwägen, um keine Rüge zu riskieren und um immer der quasi unsichtbare Dienstbote der Fahrgäste zu bleiben. Es könnte sich ja auch ein Spion der Zuggesellschaft darunter verbergen. Für Baxter heißt es also zu warten, bis er gerufen wird, Wünsche zu erfüllen, Fragen zu beantworten, beim Ein- und Aussteigen behilflich zu sein, nie zu aufdringlich, immer ein wenig devot und auf ein nicht zu geringen Trinkgeld zu hoffen.
Die Reise im Zug, die Zusammensetzung der Fahrgäste, ihre Gespräche, Marotten und Vorlieben – darin erinnert der Roman an die Klassiker des Genres, die ansonsten auch gerne in Hotels, auf abgelegenen Inseln oder auf Kreuzfahrtschiffen spielen. Eine Gruppe von Menschen kommt zufällig zusammen, man muss gezwungenermaßen Zeit in unmittelbarer Nähe zu den anderen verbringen. Das frisch verheiratete Ehepaar, der Arzt, der sich leutselig gibt, die Enkelin mit ihrer Großmutter, der Optiker, der viel verspricht und nichts hält, die jungen Frau, die so sehr betont, dass sie Abolitionistin ist, Mutter und Tochter, die ständig streiten, …
Für Baxter verschwimmen Realität und Traumwelt immer mehr, je länger er in seinem Waggon sitzt. Tag und Nacht, kurz schlafen und darauf warten, dass wieder jemand klingelt, dass es etwas zu tun gibt, das er laut dem Handbuch der Zuggesellschaft penibel zu erledigen hat; vergisst oder übersieht er etwas oder ist jemand unzufrieden, drohen ihm wieder die Punkte und davon hat er schon fünfzig angesammelt. Ab sechzig Punkten wird auf seine weitere Mitarbeit verzichten, wie man das nennt.
Diese Nähe wird bedrückender, unausweichlicher, als der Zug auf der Fahrt von Montreal nach Vancouver („es ist die schnellste Verbindung über den Kontinent, Sir“) wegen einer Schlammlawine nicht weiterfahren kann. Wie eng kann es werden in einem Zug, der vollbesetzt mitten im Nirgendwo gestrandet ist.
Der Roman ist zum einen stellenweise wirklich langatmig, zudem sich die Geschichte mit kleinen Abwandlungen gelegentlich wiederholt. Damit die Eintönigkeit einer solchen tagelangen Zugreise zu beschreiben ist zwar wahrscheinlich recht realitätsnah, führt aber hier im Buch dazu, dass man dann udn wann rasch weiterblättert. Für meinen Geschmack driften die Beschreibungen des Zugalltages mit den Befindlichkeiten seiner Gäste leider auch allzu oft in Belanglosigkeiten ab.
Zum anderen aber kann man sich in gewisser Weise dazu setzen, in einem Abteil mitreisen (wenn auch sicher nicht in einer der ungemütlichen Kojen die Nacht verbringen), dann ist man mit dabei und erlebt eine solche Zugreise aus den 1920er und alle diese Menschen selbst … und freut sich, dass es heute weitaus komfortabler und auch schneller zugeht.
Es gibt sie noch, die Züge, in denen man einen Platz bucht, um sich über mehrere Tage durch die Landschaft fahren zu lassen; von Montreal nach Vancouver benötigt man vier Tage, verfügt über komfortable Abteile, beste Verpflegung und genießt den Blick auf die Landschaft. Nur den „Diener“ den gibt es heutzutage nicht mehr.
*) Der Buchtitel-Teil „Diener“ in der deutschen Übersetzung sowie die Verwendung dieses Begriffes im Roman mag vielleicht recht nahe am gesellschaftlichen Status dieses Berufes entsprechen; der englische Originaltitel verwendet allerdings den Begriff „Porter“, was besser mit „Portier“ übersetzt wäre und in unserem Sprachgebrauch von „Diener“ doch stark abweicht.