Tove Alsterdal: Blinde Tunnel
Autorin/Autor: Alsterdal, Tove
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Diesen Traum, irgendwann einmal die Zelte in der alten Heimat abzubrechen und die folgenden Jahre in einem Haus in der Toskana, auf einer Insel in der Ägäis oder an irgendeinem anderen Sehnsuchtsort zu verbringen, haben sicher viele. Aber wer zieht von Schweden nach Böhmen, ins alte Sudetenland in einen kleinen Ort, um dort ein verfallenes Weingut zu kaufen und selbst zu renovieren?
Von den Einwohnern dieser Kleinstadt trennt Sonja und Daniel Åström nicht nur die Sprache, es ist auch die Lebensweise; schwierig für Neuankömmlinge, wenn man nicht weiß, auf welchen Traditionen die Gegenwart der Menschen aufbaut. Zudem ist Deutsch, das Sonja abwechselnd mit Englisch zur Verständigung benutzt, als Sprache im Sudetenland nicht besonders gut angesehen, noch immer wirken die Taten der Nazis in den 1930er- und 1940er-Jahren nach.
Daniel trägt mit seinem schon beinahe isolationistisch zu nennenden Verhalten noch mehr dazu bei, dass Sonja es schwer hat, Anschluss zu finden. Sonja, die Ich-Erzählerin, wird wohl über die Hintergründe des Verhaltens Bescheid wissen, doch zunächst ist nichts darüber zu lesen.
Sein schon fast manisch zu nennender Drang, die Renovierung des Hauses voranzubringen, lässt ihn im Keller einen vermauerten Zugang zu einem alten Tunnel einreißen. Dort, in einem der dunklen Gänge findet Sonja die mumifizierte Leiche eines Jungen. Schwer zu sagen, seit wann der Körper dort liegt; die Polizei untersucht den Ort, transportiert die Mumie ab, sichert zu, das Ehepaar weiter zu informieren. Das Wenige, das sich nach dem Fund klären lässt, weist darauf hin, dass es sich um einen 10–15 Jahre alten Jungen handelt, wahrscheinlich Deutscher, der im Keller verhungert ist, weil er eingemauert worden war. Ein paar alte Münzen aus der Nazizeit, gefunden in seiner Hosentasche, belegen den Eindruck, dass der Tote hier seit den 1940er-Jahren lag. Es ist aber kein Fall, in den die Polizei Ermittlungszeit investieren wird, so viel ist klar, denn was soll es nach so langer Zeit aufzuklären geben; und wen interessiert es heute noch, was damals geschah.
Daniels Verhalten bleibt rätselhaft und undurchsichtig. Er ist aufbrausend, mürrisch, herrisch, verzweifelt, manchmal deprimiert, dann wieder enthusiastisch. Als Anna Jones, die Zufallsbekanntschaft von Sonja und Anwältin, die den beiden bei ein paar Probleme mit der Stadtverwaltung helfen wollte, direkt neben dem Haus ermordet wird, scheint Daniel, eben wegen seines Verhaltens, in das Verbrechen verwickelt zu sein. Jedenfalls nimmt die Polizei das an und nimmt ihn fest. Seltsam, dass Anna genau unter der Linde gefunden wurde, über die sie noch zwei Tage zuvor mit Sonja gesprochen hatte.
Der Grund für Wahl des Ortes für die Handlung des Romanes, warum es ausgerechnet Böhmen sein musste, wird immer klarer. Es ist die Mitte Europas, ein historischer Schauplatz seit mehr als einem Jahrtausend von den alten böhmischen Königen bis zur Neuzeit. In der Mitte des 20. Jahrhunderts zuerst der Anschluss an Nazideutschland, nach dem Weltkrieg die Vertreibung der Sudetendeutschen und dann der Kommunismus – so wurde die Grundlage für die Verhältnisse in der Gegenwart gelegt. Als zuerst die einen begannen, sich für Herrenmenschen zu halten und später dann die anderen in blinder Wut Rache nahmen, wurden Familien, die über Generationen friedlich und freundschaftlich verbunden Tür an Tür gelebt hatten, zu Feinden. Es ist am Ende eine Mischung aus dies allem, die die Zutaten zu diesem Thriller liefert.
Der Stil, die Wortwahl, die Formulierungen: alles zusammen vermittelt von Anfang an eine Stimmung der Ungewissheit. Das Gefühl, dass etwas Unsichtbares immer mitschwingt ist, stellt sich beim Lesen schon nach wenigen Absätzen ein. In kleinen Hinweisen wird deutlich, was hinter der Geschichte des Hauses, dem Verhalten Daniels, dem Auftauchen von Anna Jones steckt.
Tove Alsterdal nahm sich mit diesem Roman ein Kapitel der jüngeren Geschichte Europas vor, das für die Beteiligten und deren Nachfahren oft auch heute noch, Jahrzehnte danach, schmerzhaft und unbewältigt ist. Zuerst die Annexion des Sudetenlandes durch Nazideutschland, stattgefunden unter dem Jubel der deutschsprachigen Bevölkerung. Dann die Annexion ganz Tschechiens und die Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ als eine Art Kolonie des „Dritten Reiches“ und nach der Niederlage Nazideutschlands die Vertreibung der Deutschen (Stichwort: Beneš-Dekrete). Mord, Vertreibung, Gewalt von allen Seiten.
Als Schwedin kann Tove Alsterdal quasi einen neutralen Blick auf das Geschehen werfen. Wie sie dann daraus einen Roman macht, das finde ich wirklich außerordentlich gut gelungen, weil sie neben der fiktiven Handlung auch ein sehr treffendes Bild der wirklichen Ereignisse und deren Folgen zeichnet. Ein sehr dichter Roman, eine packende Story und insgesamt beinahe so etwas wie eine Parabel darüber, welchen zerstörerischen Einfluss Nationalismus und Demagogie auf Menschen haben.