Buchbesprechung/Rezension:

Daniel Kehlmann: Lichtspiel

Lichtspiel
verfasst am 10.10.2023 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Kehlmann, Daniel
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
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[Gesamt: 1 Durchschnitt: 5]

Der Roman über Menschen, denen der Boden unten den Füßen weggezogen wurde. Hier können sie nicht bleiben, weil das Terrorregime der Nazis an die Macht kam und mit ihm alle Schranken fielen. Dort können sie nicht bleiben, weil es in Hollywood nur ums Geld und Gewinn geht und wer keinen Erfolg hat, bekommt keine neue Chance.

Davon erzählt Daniel Kehlmann in dieser Romanbiografie über den Filmregisseur George Wilhelm Pabst, der in seinem Leben in ganz unterschiedlichen Welten überleben musste.

G.W.Pabsts Schicksal und das seiner Familie ist eines von vielen, ganz ähnlichen, in den 1930er-Jahren. Ganze Scharen von Künstlern, Intellektuellen, Wissenschaftler, meistens Juden, aber auch viele andere, die unter der Herrschaft der Nazis nicht leben wollten oder konnten, wurden aus Deutschland vertrieben. Welche Entscheidungen den Menschen aufgezwungen wurden, sollte man bleiben und hoffen, oder alles aufgeben und fliehen?

Sie wollten hinaus, nach Frankreich, in die Schweiz, nach England oder Amerika. Wenige ergatterten ein Visum in eines dieser Länder, darunter auf Pabst. Hollywood, das war das Ziel, aber es wurde ein Rückschlag. Ein Film, den er nicht machen wollte, wurde zum erwarteten Misserfolg, für einen weiteren fand der keine Finanzierung. Dann tat G.W. Pabst etwas, das bei seinen Zeit- und Leidensgenossen nur Unverständnis hervorrufen konnte. Er reiste zurück nach Europa, nach Frankreich und von dort, wer tat das schon freiwillig zu dieser Zeit, nach Österreich. Seine Mutter hatte ihm geschrieben, er solle so rasch wie möglich nach Hause kommen. Nach Hause, das ist sein Schloss in Kärnten. Doch das Telegramm war eine Fälschung, Pabst, seine Frau Trude und sein Sohn Jakob landen in einem Land, das nicht mehr das alte ist. Österreich ist jetzt die Ostmark, Nazis gebärden sich wie Herrenmenschen, jedes Wort muss vorsichtig gewählt sein, Spitzel lauern hinter jeder Türe.

Man kann es beinahe fühlen

Die angstvolle Atmosphäre, die Verrohung der Menschen, die Ziellosigkeit, mit der Menschen durch ihr Leben irrten, weil alles das, was zuvor dieses Leben ausmachte, wie weggewischt war.

Nichts anderes kann man über diesen Roman sagen als das: Daniel Kehlmann beschreibt die Zeit so, man kann alles mit Händen greifen, mit dem Herzen fühlen und wird es doch mit dem Kopf nicht verstehen. Wie konnte es solche Zeiten geben (… und wie viele dumme Leute gibt es heute, die diesen Zeiten nachtrauern …).

Es gibt kaum einen Aspekt der Nazizeit, der nicht beleuchtet, untersucht oder analysiert wurde. Das eine sind die Fakten, das historische Wissen über diese Zeit, es gibt unzählige Bücher und Dokumentationen, aus denen man erfährt, was sich damals zutrug. Das andere sind die Erinnerungen derjenigen, die diese Terrorzeit überlebten.

Und dann gibt Romane wie diesen, in denen Fakten und Fiktion, Traum und Wirklichkeit, ein Bild dessen zeichnen, was einzelne miterlebten, die doch nichts anderes wollten, als ihre eigenen Träume zu verwirklichen.

Anhand einzelner Szenen nimmt man am Leben von G.W. Pabst teil, jede Szene ein Kapitel im Buch. Das Scheitern in Amerika, die Rückkehr nach Europa, zuerst Frankreich, dann die Schweiz. Dann die Reise aus der Schweiz in die „Ostmark“, als er an der Grenze in Feldkirch mit seiner Familie verfolgen muss, wie aus dem Zug in die Schweiz, der am gegenüberliegenden Bahnsteig hält, die Menschen, die das Land verlassen wollen, herausgeholt, betrogen und gedemütigt werden.

Wenn die davor liegenden Ereignisse noch nicht erschütternd genug sind, dann ist das Kapitel „Jerzabeck“ ein erster, kaum zu ertragender, dramatischer Höhepunkt. Hilflos ist man den Nazi-Emporkömmlingen ausgeliefert, niemand ist mehr da, der für Recht und Gerechtigkeit steht und wer noch in solchen Kategorien denkt, schweigt, um sein Leben nicht zu riskieren. Wer, so wie Pabst, im Ausland war, ist sowieso verdächtig, der ist ein Judenfreund, ein Volksverräter.

Dann kommt der 1. September 1939, Hitler beginnt den Krieg und wer noch das Land verlassen wollte, ist jetzt gefangen, für eine Flucht ist es zu spät, die Grenzen geschlossen. So auch für Pabst und seine Familie, die doch so bald wie möglich wieder zurück in die Schweiz reisen wollte, jetzt aber in diesem riesigen Gefängnis festsitzt, das einstmals ein Land der Kultur gewesen war. Jetzt ist das erlaubte, das öffentlichen Denken und Reden auf die Phrasen und die Ideologie der Nazis hineingepresst, bestimmen Männer in braunen Uniformen, was gesagt, getan, gezeigt und gelehrt werden darf.

Überzeugung oder Anpassung?

Immer wieder stellt man sich die Frage, ob die Menschen aus Überzeugung handelten, oder weil sie Angst hatten und sich anpassten. Einige lebten im Exil – Fred Zinnemann, Billy Wilder, Fritz Lang sind ein paar der Menschen, denen man dort begegnet. Einige blieben in Deutschland, weil wo sollten sie sonst hingehen und ihre Motive bleiben verschwommen – Heinz Rühmann, Henny Porten, andere, genossen ihre Privilegien, aber wo standen sie? War man selbst schon einer der Nazis, wenn man wissentlich deren Unterstützung in Anspruch nahm? Andere waren ganz dem Naziregime ergeben, stellten ihren Antisemitismus und ihre Bewunderung für Hitler begeistert dar – Leni Riefenstahl, Werner Krauss, Alfred Karrasch und unzählige andere. Alle übernehmen eine Rolle in diesem Roman und zeigen damit die ganze Zerrissenheit.

Es sind dann die Dialoge, die Gespräche, die Kehlmann so schreibt, dass man es sich vorstellen kann, wie die Menschen in diesen Gesprächen einander quasi gegenseitig belauern. Weiß man doch nicht, wem gegenüber man ehrlich sein kann und wer ein falsches Wort umgehend an die Gestapo melden würde. Nicht einmal in der eigenen Familie kann man noch frei reden. So wird vieles nicht gesagt und dennoch weiß man, was gemeint ist.

Wie doch das Gehabe der Filmemacher-Szene einem Tanz auf dem Vulkan glich, versteht man mit dem Kapitel „Paracelsus“. Die Premiere dieses Filmes von G.W. Pabst war am 6. Mai 1943 in Salzburg, viel Prominenz aus dem ganzen Deutschen Reich war vor Ort. Salzburg deshalb, weil es zu diesem Zeitpunkt noch außerhalb der Reichweite der alliierten Bomber lag, man wollte sich die glanzvolle Premiere nicht verderben lassen. Eingeladen, besser gesagt dorthin gebracht wurde auch der Radiomoderator Rupert Wooster. Bei dieser Figur handelt es sich um das fiktionale Alter-Ego des britischen Autors P.G. Wodehouse, der von den Deutschen für Propagandazwecke festgehalten wurde. Seine Kommentare, seine Begegnungen im Lichtspielhaus, wie er ignoriert, was in Nazideutschland opportun und was lebensgefährlich ist, das gleich schon beinahe einer Folge von Slapstick-Szenen. Man amüsiert sich, es ist wirklich witzig und alles das während man weiß, dass zur selben Zeit auf dem Kontinent millionenfach gemordet wurde.

Am Schluss der scharfe Schnitt, als der Krieg vorbei ist und sie alle wieder Tür an Tür leben, zusammen an einem Filmprojekt arbeiten, die früheren Täter und die früheren Opfer. Auf der einen Seite, die, die ihre Vergangenheit verleugnen und ihren schrecklichen Fanatismus nur nach außen, nicht aber im Inneren abgelegt haben. Auf der anderen Seite die, die sich beim Anblick der Peiniger immer wieder an diese Vergangenheit erinnern müssen.

Schon nach wenigen Seiten war mir klar, dass „Lichtspiel“ ein wirklich großartiges Buch ist. Ein historischer Roman, der überzeugend Wirklichkeit und Fiktion verbindet, der Menschen der Zeit, ausgestattet mit überaus real wirkenden Worten und Taten, in Situationen zeigt, die genau so oder so ähnlich stattgefunden haben könnten.

Für mich einer der eindrucksvollsten Romane des Jahres 2023.




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