Michel Jean: Tiohtiá:ke
Montreal
Autorin/Autor: Jean, Michel
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Menschen, die unter uns wie auf einer einsamen Insel leben. Schrecklich, dass es inmitten unserer Zivilisation und unseres Wohlstandes immer noch so viele gibt, die auf den Straßen leben müssen.
Was sie an diese Station ihres Lebens gebracht hat, das sind ganz unterschiedliche Schicksale. Der eine hat nach einer Scheidung seinen Halt verloren, der andere, der sein Leben nicht mehr steuern konnte. Oder so einer wie Elie Mestenapeo, der nach zehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Elie hat seinen Vater ermordet, dafür wurde er verurteilt, es war ganz eindeutig, dass er der Mörder ist, denn als man den Toten fand, kniete Elie mit blutigen Händen über ihm. Aus seinem Dorf wurde er verbannt, das ist das Urteil, das man beim Volk der Innu über jene fällt, die einen Menschen getötet haben.
Mit dem Wenigen, das in seinem Besitz ist, nimmt Elie nach seiner Entlassung den Bus nach Montreal – Tiohtiá:ke, wie es früher in der Sprache der Mohawk hieß, bevor die Franzosen es im 16. Jahrhundert Mont Royale (nach ihrem König Franz I.) nannten.
Als ihm dort, gleich in der ersten Nacht, alles gestohlen wird, gibt es für ihn keinen anderen Weg als den zu den Obdachlosen.
Es gibt dieses Bewusstsein in den Menschen, die den First Nations entstammen, das sie in den Städten fremd bleiben lässt. Beim Lesen des Buches bekommt man vielleicht einen kleinen Einblick, was es heißt, so alte Wurzeln zu haben und dann doch nur so etwas wie ein geduldeter Gast in der ureigenen Heimat zu sein. Gast in einer Welt, die von anderen, die über die Ozeane kamen, neu gestaltet und in Besitz genommen wurde.
Menschen wie Elie fühlen die Verbundenheit mit dem Land und die vielen Jahrtausende, die ihre Vorfahren dieses Land schon besiedeln, in sich.
Das verbindet sie auch hier in Montreal, das lässt die alten Stammesgrenzen verschwinden. Überdurchschnittlich viele von ihnen leben auf den Straßen, davon erfährt man in diesem Roman und auch von der allgemeinen Lage der indigenen Bevölkerung, deren Angehörigen wie in einer Welt zwischen den Zeiten leben. In ihren Reservaten herrscht eine seltsame Mischung aus Traditionsbewusstsein und Tristesse, die sich allzu oft in übermäßiger Gewalt und viel zu viel Alkohol niederschlägt. Und wenn sie dann in die Welt der anderen, der Weißen kommen, dann werden sie oft als Menschen zweiter Klasse angesehen. Dann verwehrt man ihn die Anerkennung als gleichwertige Bürger des Landes, weil sie eine andere Lebensweise haben und nur wenige finden einen Platz in dieser Gesellschaft, wenn man eher einen Bogen um sie macht, als auf sie zugeht.
Die in die Handlung verwobene Schilderung der gegenwärtigen Situation der Indigenen ist zudem ein Dokument der andauernden Ausgrenzung (und natürlich nicht auf Kanada beschränkt, wie man unter anderem den jüngsten Ergebnissen eines Referendums über die Rechte der Aborigines in Australien entnehmen kann).
Elies Weg scheint genau in diese Richtung vorgezeichnet: Leben und Tod auf der Straße. Er ist aber einer der wenigen, der das Glück hat, die richtigen Menschen kennenzulernen.
Wenn sich die Beschreibung des Romanes bisher den Eindruck erweckt, dass man es mit einer deprimierenden, düsteren Geschichte zu tun hat, dann ist das nur die eine Seite. Die andere Seite ist, dass Michel Jean darüber schreibt, wie ein Leben auf der Straße, ein Leben als Angehöriger einer der First Nations keine Einbahnstraße in den Abgrund sein muss, sondern dass es auch Wege heraus gibt.
Eine überaus bewegende Erzählung, spannend dazu, weil man keine Vorstellung davon hat, wie Elies Zukunft aussehen wird; und am Ende wird man feststellen, dass man sogar so etwas wie einen Krimi gelesen hat.