Christopher Paul Curtis: Die Watsons fahren nach Birmingham - 1963
Autorin/Autor: Curtis, Christopher Paul
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Ist das ein Jugendbuch, ein Buch für Erwachsenen oder für Kinder? Um es gleich von Beginn an klarzustellen: Die Geschichte über das Leben der Familie Watson ist ein Buch für ALLE!
Ort der Ereignisse ist die Stadt Flint in Michigan (in den letzten Jahren wegen verseuchten Wassers in den Schlagzeilen), im Fokus die Familie Watson: Mommy, Dad und die drei Kinder Byron, der älteste, Kenneth der mittlere und Joey, die jüngste. Es ist ein ganz normales Leben, eine ganz normale Familie, jedenfalls im Bundesstaat Michigan, wo Schwarze im Jahr 1963 zwar oftmals benachteiligt waren, aber weit weg von den Zuständen und Bedrohungen in den Südstaaten.
Eine sehr typische Familie, eine von vielen, die im Jahr 1963 in der damals noch florierenden Stadt Flint lebten. Byron, der älteste Sohn, zeigt ein Verhalten, wie man es auf der ganzen Welt von pubertierenden Teenagern erwarten würde. Kenneth fürchtet sich zwar manchmal vor seinem großen Bruder, bewundert ihn aber zugleich auch für seine Furchtlosigkeit und sein Aufbegehren gegen die Regeln der Erwachsenen.
Es sind Szenen wie aus dem Leben gegriffen, manche davon urkomisch, manche hat man ähnlich vielleicht selbst (mit)erlebt, nichts, was das Leben von schwarzen Kindern vom Leben von weißen Kindern unterscheidet (warum sollte es auch?).
Irgendwann sind die Eltern aber an dem Punkt angelangt, an dem sie fürchten, dass Byron auf die schiefe Bahn geraten wird. Als Lösung soll Byron für einige Zeit bei der Großmutter in Birmingham, Alabama, leben. Denn Großmutter weiß, wie man mit aufsässigen Jugendlichen umgehen muss.
Der so „sanfte“ Buchtitel verrät nicht, dass man einen Roman lesen wird, der so bewegend und aufwühlend ist. Der zunächst eine durchschnittliche Normalität und am Ende Ungeheuerliches beschreibt.
Im Sommer des Jahres 1963 brennt der Süden der Vereinigten Staaten, Alabama ist einer der Brennpunkte. Es ist nicht die Hitze, die von der Sonne kommt, damit haben alle gelernt zu leben. Es ist der Aufbruch der farbigen Menschen, die beginnen ihre Rechte als Menschen, als Bürgerinnen und Bürger einzufordern.
Sie stehen auf gegen die weißen Rassisten, die, unterstützt und gedeckt von der Politik und der Exekutive, mit Bomben, Gewalt und Mord alles versuchen, um ihre Machtpositionen zu behalten und den Menschen andere Hautfarbe, jedes Grundrecht verweigern. Martin Luther King hielt in diesem Sommer seine Rede „I Have a Dream“.
In diesen Süden reisen die Watsons und geraten hinein in die Auseinandersetzungen.
Auch wenn die speziellen Ereignisse im Roman und die Watsons eine Fiktion sind, so basiert doch alles auf Tatsachen. Ein reales Ereignis, das Leben der Watsons direkt beeinflusst, ist der Bombenanschlag von Birmingham im September 1963. Eine umfangreiche Aufklärung dazu liest man im Nachwort.
Was mich mit jeder Zeile des Buches beschäftigt:
Im derzeitigen Zustand von Gesellschaft, Politik und Demokratie in den USA ist es nicht unwahrscheinlich, dass dieses Buch, falls es nicht schon darauf ist, auf der Liste verbotener Bücher landet. Listen, wie es sie in von den US-Republikanern regierten Bundesstaaten und in von ultrarechten, evangelikalen Boards dominierten Schulen schon gibt, Listen, wie sie auch die Nazis hatten, um Texte, die ihrer Ideologie entgegenstanden, zu verbieten.
Denn in diesem Buch ist die Rede von Rassismus, von Diskriminierung, von Rassentrennung (die sich kaum von der in Südafrika unterscheidet), von Gewalt gegen Schwarze, von Lynchmorden – genau die Zustände, die damals tatsächlich in den Südstaaten herrschten. Zustände, über die man heute aber aus Sicht der Rechtsextremen nichts mehr lesen sollte.
Wie sehr das alles im Jahr 2024 in (viel zu) vielen Köpfen verankert ist, sieht man daran, dass vier Jahre lang mit Donald Trump ein Rassist im Weißen Haus saß, der sogar gute Chancen hat, wieder dorthin zu gelangen.
Dabei ist das doch etwas, das überwunden schien, als Barack Obama im Jahr 2008 zum Präsidenten gewählt wurde, es fühlte sich wie ein Aufbruch in neue Zeiten an. Doch dann kamen die Rassisten, die Rechtsextremisten wieder aus ihren Löchern und wählten Trump, der für sie wieder die Vorherrschaft der Weißen errichten sollte.
Resumee:
Mag sein, dass dieses Buch ursprünglich für die Jugend geschrieben wurde und dass es in den Vereinigten Staaten vor allem von Jugendlichen gelesen wird.
Tatsache ist aber, dass „Die Watsons fahren nach Birmingham – 1963“ völlig alterslos und vor allem auch völlig zeitlos ist. Der Roman macht tiefen Eindruck auf Menschen jeden Alters. Einerseits, weil er das Geschehen von vor sechzig Jahren in Erinnerung ruft, andererseits, weil das, was damals in Birmingham geschah, im aufgehetzten Klima unter den Rechtsextremen in den USA auch heute passieren kann … und auch sonst überall auf der Welt.
Der Roman ist im Jahr 1995 erschienen, aber im Jahr 2024 so aktuell, wie es ein Roman nur sein kann.