Buchbesprechung/Rezension:

Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
verfasst am 13.01.2024 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Murakami, Haruki
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
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Er ist siebzehn, sie ist sechzehn. Sie beide sind in einem Alter, in dem die Gefühle, wenn diese sich einmal einstellen, meist stärker und überwältigender sind als in jedem anderen Lebensalter.

Er, der Siebzehnjährige bleibt ohne Namen und er ist es, der als Ich-Erzähler die ganze Geschichte erzählt. Die beiden jungen Leute verbindet von Beginn an, dass sie miteinander reden können, mehr als sie es jemals zuvor mit anderen Menschen erfahren haben. Sie erzählt von ihren Träumen, die sie immer aufschreibt, ein Notizbuch neben ihrem Bett hilft, dass sie alles gleich aufschrieben kann.

Es gibt etwas, das sie erzählt, von dem er nicht weiß, ob es auch ein Traum ist, oder ob es wahr ist. Sie offenbart ihm, dass sie selbst, der Mensch, den er vor sich sieht und mit dem er spricht, nur ein Abbild ihres Wahren Ichs sei. Dieses Wahre Ich des Mädchens lebt in einer namenlosen Stadt, die von einer undurchdringlichen Mauer umgeben ist und wenn er sie dort aufsuchen würde, würde sie ihn nicht erkennen. Wie auch immer es auch passiert, gelangt er eines Tages tatsächlich an diesen Ort und trifft das Wahre Ich seiner großen Liebe. Ein seltsamer Ort, den man nur schwer verlassen kann, wenn man ihn einmal betreten hat. Sie erkennt ihn tatsächlich nicht, dennoch verlebt er dort einige Zeit – wie lange, das lässt sich an diesem Ort nicht feststellen, denn Zeit und deren Ablauf existieren dort nicht.

Diese Stadt darf man nur betreten, wenn man am Tor seinen Schatten abgibt. Er folgt dieser Bedingung, tritt durch das Tor, während sein zurückgelassener Schatten in der Obhut des Torwächters zurückbleibt. Das Schicksal des Schattens scheint vorherbestimmt, denn ohne seinen Menschen ist er zum langsamen Sterben verurteilt. In diesem Fall jedoch verhilft der Mensch seinem Schatten zur Flucht zurück in die Wirklichkeit.

Was ist es von da an, was wir lesen? Verfolgt man als Leserin nun den Lebensweg des Schattens oder ist (auch) der wirkliche Mensch auf unbekannten Wegen aus der Stadt entkommen? Wer von beiden ist die Person, die nun wieder in der Realität existiert?

Zurück in der Realität geschieht das Schlimmste, was er, der Erzähler, sich vorstellen kann: seine Liebe, seine Freundin, sein Lebensmensch verschwindet spurlos. Jahre vergehen, er ist zu keiner andauernden Beziehung mehr fähig, nach Jahrzehnten bricht er in ein neues Leben auf, weit weg von seiner Heimatstadt.

In einer namenlosen Stadt in den Bergen findet er eine Anstellung als Direktor der kleinen Stadtbibliothek. Es ist ein geregeltes, unaufgeregtes Leben, das ihn hier erwartet; so weit entfernt und doch mit Momenten und Begegnungen, die ihn sich an seine vergangene Liebe und an die Stadt ohne Schatten zurückerinnern lassen.

Haruki Murakami schreibt über die Existenz zwischen den verschiedenen des Daseins. Zum einen das Leben, in dem wir hin und wieder, wenn wir Glück haben, einzigartigen Menschen begegnen. Dann die Welt der Träume, in denen sich Erinnerungen und Visionen miteinander verbinden und letztendlich die Sphäre nach dem Leben, in die wir mit dem Tod eindringen.

Wie unglaublich bewegend ist beispielsweise die Beschreibung jenes Ereignisses, als der fünfjährige Sohn des Ehepaares (um wen es sich handelt, schreibe ich hier nicht, um nichts vorwegzunehmen) bei einem Unfall ums Leben kommt. Ein Moment der Unachtsamkeit, ein Wimpernschlag nur und der Bub gerät mit seinem Fahrrad unter einen Lastwagen. Es rührt zu Tränen zu lesen, wie die Eltern danach weiterleben, wie sie überlegen, was sie hätten anders machen können, wie sie im Handeln in den Augenblicken vor der Katastrophe eine eigene Mitschuld glauben zu entdecken, die doch nicht da war. Das ist nur einer von vielen Abschnitten, in die man beim Lesen förmlich hineingezogen und das Geschehen richtiggehend mit(er)leben wird. Es ist nur eine sehr kleine Nebenepisode im Buch, die aber symbolhaft für die Eindrücke steht, die sich beim Lesen immer wieder aufbauen.

Der Roman eine sehr typische Murakami-Erzählung, in der sich Realität und Fiktion miteinander vermengen, ohne dass man als Leserin und Leser immer genau wissen kann, in welchem der beiden Zustände die Handlung sich gerade befindet. Wie immer bei Murakami geht das nicht ohne musikalische und erotische Seitenblicke ab.

Es ist von unglücklicher Liebe, von unerfüllten Träumen, von Einsamkeit und von Verlusten zu lesen und dennoch vermittelt der Roman mit aller seiner Ruhe, die er ausstrahlt, in Summe ein Gefühl der Zuversicht. Nämlich die, in der sich alles miteinander verbinden kann, wenn … man den eigenen Schatten zurücklässt und sich auf neues einlässt.

Wenn auch nicht zu erkennen ist, wohin die Erzählung führen wird – und ob sie überhaupt ein Ziel hat – so sind es die Melodie und die Stimmung, die einen gefangen nehmen. Mir ergeht es so, dass ich seitenweise lese und erst nach einiger Zeit feststelle, wie weit ich schon wieder im Buch vorangekommen bin. Die Bilder, die Murakami schreibt, ziehen vorbei und reihen sich aneinander wie ein endloses Panorama.

Am Ende ist eine mystische Welt entstanden, wie sie nur wenige außer Haruki Murakami erschaffen können. Beeindruckend. Großartig. Lesenswert.




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