Buchbesprechung/Rezension:

Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer

Gebranntes Kind sucht das Feuer
verfasst am 09.02.2024 | 1 Kommentar

Autorin/Autor: Edvardson, Cordelia
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
LiteraturBlog Bewertung:

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[Gesamt: 1 Durchschnitt: 5]

So viele Bücher über den Holocaust ich auch schon gelesen habe: eines zu lesen, das von einem Menschen verfasst wurde, der selbst an so einem Ort gefangen war und es überlebt hat, ist immer überwältigender als jede historische Aufarbeitung.

Ein Kind, das in einer Welt lebt, die es nicht versteht. Das ist beängstigend und in gewisser Weise auch hilfreich, denn dieses Unverständnis erspart ihr das Wissen um die unvermeidlichen Folgen. In jedem Fall aber erschreckend sind die Bilder, die man beim Lesen in den Kopf bekommt.

Die Begegnungen mit menschlichen Monstern, dann wieder mit Menschen, die sich einen Teil ihrer Menschlichkeit erhalten haben, diese aber in dieser allgemeinen Atmosphäre der Aggressivität und des Hasses verbergen müssen. Wie die Antisemiten aus der selbsternannten Herrenrasse immer gleich wussten, wer Jude ist. Als ob das ihr höchster Lebenszweck ist, sich darüber zu definieren.

Wie „das Mädchen“ – es Cordelia Edvardson selbst – zuerst aus dem Leben, von Freundschaften, überhaupt von aller Kommunikation mit den „Ariern“ ausgeschlossen wird. Zuerst noch in trügerische Freiheit bei ihrer Familie, dann in den Lagern und in den Güterwaggons, mit denen die Menschen wie Vieh von einer Fabrik zur nächsten transportiert wurden. Wie man ihr und den anderen jegliche Freiheit, jegliches Recht nahm und wie schon wenige ungestörte Minuten in einer finsteren Ecke sich wie die Zeit im Paradies anfühlten. Kein Leben mehr, ein Dahinvegetieren in zerschlissenen Kleidern, immer hungrig, voller Ungeziefer und einsam.

Beklemmend zu lesen, wie das Mädchen Stück für Stück aus dem Alltag der andern ausgeschlossen wird. Von Freundschaften, aus der Schule, aus den Vereinen, dann, als sie den Judenstern tragen muss, aus ihrer Familie und am Ende aus ihrer Heimtatstadt Berlin. Verbannt und ausgestoßen von diesen Antisemiten, die sich für Herrenmenschen hielten.

Das Klopfen an Türe mitten in der Nacht kommt jeden Tag etwas näher, wenn die Männer von der Gestapo Frauen, Männer und Kinder holen und in die Waggons verfrachten, die in die Lager fahren. Das Klopfen kommt näher, bis es eines Tages auch an der Tür des Mädchens klopft.

Selten noch habe ich eine derart intensive und erschütternde Erzählung gelesen, die niemanden, wirklich niemanden unbewegt lassen kann.

Warum sollte man ein Buch, das so vom Leid eines Menschen handelt, überhaupt lesen? Es passiert doch schon genug auf der Welt, überall wird gemordet, überall werden Menschen unterdrückt und gequält.

Ein Grund, dieses Buch zu lesen ist ganz sicher, um zu erfahren, wie kurz der Weg von der Welt, die wir bei uns, mitten in Europa, kennen, einer demokratischen Welt, in der Menschen alle Rechte und Freiheiten haben, zu einem Terrorregime ist.

Wenn gerade in diesen Wochen hunderttausende Menschen auf den Straßen gegen Rechtsextremismus demonstrieren, dann tun sie das auch gegen genau solche Verhältnisse, wie man sie hier nachlesen kann.

Unten den Millionen Opfern des Nationalsozialismus ist Cordelia Edvardson noch ein Sonderfall. Ihre eigene Mutter verwies sie aus dem Haus, um den Rest der Familie zu schützen. Cordelia war die uneheliche Tochter von Elisabeth Langgässer, die selbst die Tochter eines jüdischen Vaters war, und eines jüdischen Vaters. Die Mutter, Anhängerin von Hitler, schützte ihre Tochter nicht, als sie die Gelegenheit hatte. Cordelia selbst aber schützte ihre Mutter, als sie von der Gestapo vor eine lebensentscheidende Wahl gestellt wurde und die Entscheidung traf, sich selbst dem unvermeidlich scheinenden Untergang in den KZs zu ergeben; damit ihre Mutter weiterhin ihr bürgerliches Leben in Nazideutschland führen konnte.

Wie fühlt man sich, wenn man nicht nur in einer feindlichen Welt leben muss und zugleich von der eigenen Mutter den Mörder und Fanatikern ausgeliefert wird? Es ist für uns einfach nicht vorstellbar, so abscheulich und ungeheuerlich war es damals. Dieser Roman öffnet einen kleinen Spalt, damit man ein wenig davon selbst spüren kann.

Erschütternd, bedrücken, schrecklich.
Ein wichtiges Buch und der richtige Zeitpunkt, es jetzt erneut zu veröffentlichen!




Ein Kommentar

  • Gertie sagt:

    Keine leichte Kost, aber eine unbedingte Leseempfehlung!

    „Das Mädchen hatte schon immer gewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmte.Sie war nicht wie andere. Mit ihr war ein Geheimnis verknüpft, ein sündiges, schamvolles, dunkles Geheimnis. Es war nicht ihre eigene Sünde und Scham; sie war hineingeboren worden, auserwählt für das, weshalb sie ausgesondert, ausgegrenzt und ausgeschlossen wurde.Und darin fand sie ihren Stolz, um nicht zu sagen Hochmut. Wer ausgesondert, ausgegrenzt und ausgeschlossen wurde, der war auch auserwählt! Auserwählt — wozu?“

    Mit diesen Worten beginnt die Lebensgeschichte von Cordelia Edvardson (1926-2012), die 1986 erstmals erschienen. Darin erzählt die Autorin in drei Teilen über ihre Kindheit als unehelich Geborene eines Juden in Deutschland bis zu ihrer Deportation zuerst nach Theresienstadt und anschließend nach Auschwitz, dem Überleben dort und der Befreiung sowie ihres weiteren Lebens in Schweden.

    Das Buch wirkt seltsam distanziert, spricht die Autorin doch von sich in der dritten Person, als „das Mädchen“. Das beginnt schon vor der Deportation, dieses in die Anonymität abgleiten, dieses Unsichtbarmachen, denn sie will alles, nur nicht auffallen. Daher fällt es ihr nicht allzu schwer in Auschwitz als „Schutzhäftling A 3709“ jeder Würde und jeder Persönlichkeit, beraubt zu sein. Nur als man ihr die Haare schert, fühlt sie sich verloren.

    Die Zeit im KZ ist durch zahlreiche andere Bücher schon hinreichend beschrieben worden, daher stören die sparsamen Einblicke in den grausamen Lageralltag nicht. Über Selektionen, Menschenversuche von Mengele und Ähnliches ist schon mehrfach berichtet worden.

    Was dieses Buch so besonders und so besonders bedrückend macht, ist das toxische Verhältnis von Mutter und Tochter. Cordelias Mutter ist die Schriftstellerin Elisabeth Langgässer (1899-1950), den Nürnberger Gesetzen nach selbst durch ihren Vater eine halbe Jüdin, hat sich schon recht früh zu einer fast besessenen Katholikin entwickelt und in weiterer Folge zu einer glühenden Verehrerin von Adolf Hitler. Langgässers Versuche, ihre Tochter durch eine Adoption zur spanischen Staatsbürgerschaft zu verhelfen und damit retten zu wollen, erscheinen halbherzig.

    Letztlich werden sich Mutter und Tochter 1949 das einzige und letzte Mal nach der Befreiung Cordelias sehen.

    Sehr einfühlsam und gut gelungen ist Daniel Kehlmanns Nachwort.

    In aktuellen Zeiten, in denen der nach wie vor latent vorhandene Antisemitismus wieder sein hässliches Haupt hebt und alte sowie neue Anhänger geriert, sind Bücher wie dieses unbedingt zu lesen.

    Fazit:

    Diese Lebenserinnerungen der Cordelia Edvardson sind keine leichte Kost. 5 Sterne und eine Leseempfehlung.

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