Ferdinand von Schirach: Sie sagt. Er sagt.
Autorin/Autor: Schirach, Ferdinand von
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Der Titel dieses Theaterstückes sagt alles aus, worum es geht: Aussage gegen Aussage, Vorwurf gegen Leugnen, Anklage gegen Verteidigung. Einer der wenigen Fälle von Vergewaltigung, bei denen es zu einer Gerichtsverhandlung kommt.
Einer von wenigen nur, denn alleine schon die psychische Entblößung, der sich die Opfer vor einem öffentlichen Gericht aussetzen müssen, hält viele davon ab, Anzeige zu erstatten. Vergewaltigung wird wohl, das nehme ich an, ein Verbrechen sein, das am wenigsten oft geahndet wird.
Alles spielt sich im Gerichtssaal ab. Die Sachverständigen, die ihre Analysen vortragen. Katharina Schlüter, sie ist TV-Moderatoren und musste es ertragen, wie ihr ehemaliger Geliebter sie vergewaltigte. Die Anwälte, Staatsanwaltschaft, Verteidigung, die einander mit kleinen Wortgefechten permanent in die Defensive drängen wollen.
Es ist ein Theaterstück und zugleich ein Drehbuch. Ein Drehbuch, das man gar nicht mehr verfilmen müsste, denn Ferdinand von Schirach projiziert mit seinen Dialogen, mit den Fragen und Antworten, mit den Regieanweisungen aus dem Geschriebenen ein direktes Bild in den Kopf. Beinahe also kann ich alle Beteiligten an dem Verfahren dort sitzen sehen.
Zentraler Aspekt ist die Frage der Schuld, besser gesagt: der Definition von Schuld. Eine Person streite jede Schuld ab, eine andere quält sich mit der vermeintlichen Ungewissheit, vielleicht nicht doch selbst schuld zu sein. Zu lesen ist Ähnliches ja nur allzu oft, wie oft hört man davon, dass Frau sich anderes verhalten, kleiden hätte können, um Mann nicht herauszufordern.
Und dann die Folgen, die man tragen muss, wenn man sich mit einer Anzeige dem Licht der Öffentlichkeit aussetzt. Dann werden sie ja alle kommen, die Leugner, die Hasser, die Ekelhaften, die Besserwisser, die Moralapostel, die Dummen.
Im Fall von Katharina Schlüter ist alles noch schwieriger, ist sie doch als TV-Moderatorin schon eine öffentliche Person, mit den positiven, vor allem aber auch den negativen Folgen.
Und dennoch: sie berichtet dem Gericht in allen Details, was geschah und was es für Folgen für sie hatte,
Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können. Ich fühle mich so, als gehöre ich mir nicht mehr. Als sei etwas abgespalten worden.
Wie soll man sich vorstellen, was eine Vergewaltigung mit dem Opfer macht? Während der Täter davongehen kann, vielleicht kurz ein schlechtes Gewissen hat, kann sich für das Opfer ein ganzes Leben ändern. Wenn jemand in den persönlichsten Bereich eindringen konnte, wenn man hilflos war – wie fühlt man sich danach. Stunden, Tage, Woche, Jahre später? Es kann nicht funktionieren, sich davon ein Bild zu machen, wenn man nie selbst in eine solche Lage geraten ist.
Wenn Ferdinand von Schirach dann die Gerichtsverhandlung in allen Details schildert, dann ist es so realistisch, wie es aus der Feder eines Schriftstellers, der zugleich auch Strafverteidiger ist, nur sein kann. Beim Lesen solcher Szenen weiß ich immer, warum es mir nicht möglich wäre, als Strafverteidiger zu arbeiten; viele der Klienten sind sicher unschuldig, aber nachzulesen, was man alles tun muss, um die Unschuld eines vielleicht Schuldigen zu beweisen, das ist grausam. Ganz abgesehen von Moral oder Unmoral bleibt aber auch hier die Frage, wie sich die Aussage der einen oder anderen Seite beweisen lässt.
Womit am Ende oft nur das Prinzip „In Dubio pro Reo“ zur Anwendung kommen kann, ein eindeutiges Urteil aber ausbleiben muss. Das ist, Schlüters Rechtsanwalt Biegler führt das in seinem Plädoyer aus, allzu oft eine Verschiebung der Rechtsbalance zugunsten von Tätern.
Schirachs Drama hilft vielleicht ein wenig dabei, zu verstehen, welche Folge eine Vergewaltigung für das Opfer hat, kann aber natürlich nur ein klein wenig an der Oberfläche kratzen. Das aber reicht mir schon, um tiefste Abscheu für alle Täter, überall auf der Welt, zu empfinden.
Ein Gerichtsdrama, dessen Wirkung man sich kaum entziehen kann.
PS: die Verfilmung des Gerichtsdramas wurde am 24.2.2024 im ZDF gezeigt