Buchbesprechung/Rezension:

Jeanette Schmid: Ich pfeif' auf alles ...!
Das Leben der Kunstpfeiferin Baronesse Lips von Lipstrill

Ich pfeif' auf alles
verfasst am 26.08.2024 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Schmid, Jeanette
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„Wer staunen will, der liege ihr für eine Weile zu Füßen” (André Heller) Welch passendes Zitat!

Am 6. November 2024 würde eine bekannte Künstlerin, die mit Showgrößen wie Josephine Baker, Frank Sinatra, Édith Piaf oder Marlene Dietrich auf der Bühne gestanden ist, ihren 100. Geburtstag feiern: Jeanette Schmid, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Baroness Lips von Lipstrill (1924-2005).

Was ist so besonders an Jeanette? Zum einen ist sie als Rudolf Schmid geboren und zum anderen durfte ich nämlich sie als Jeanette in den 1970-er-Jahren persönlich kennenlernen. Wir wohnten damals in unmittelbarer Nähe ihres Wirkens, dem Wiener Nachtlokal „Cabaret Renz“, und ich habe das im Nachbarhaus beheimatete Gymnasium besucht.

Jeanette hat mich immer fasziniert. Ich habe sie immer bewundert, wenn sie perfekt geschminkt auf ihren High Heels über das holprige Pflaster gestöckelt ist, immer eine Zigarette, häufig mit langem Zigarettenspitz, in der Hand und häufig einen Schal oder eine Federboa um den Hals.

Wenn meine Freundinnen und ich am Morgen an der Schule vorbei geschlichen sind und den Eingang derselben links liegengelassen haben, ist Jeanette gerade von der Arbeit gekommen. Sie hat immer ein paar freundliche Worte für uns Schulschwänzer gehabt, wenn wir einander, während der Unterrichtszeit in einem der umliegenden Kaffeehäuser getroffen haben. Manchmal haben (vor allem männliche) Schulkollegen hinter vorgehaltener Hand über sie gekichert. Das beste war einfach, dass wir Mädchen uns in ihrer Begleitung auch in sogenannte „ Tschocherl“, also übel beleumundete Kaffeehäuser wagen konnten, wo niemand uns Schulschwänzer vermutet hat. Manchmal hat sie die Kosten für Toast und Kaffee übernommen, da wir ja meist knapp bei Kasse waren.

Wer ist sie nun, diese Jeanette Schmid, die Baroness Lips von Lipstrill?

Jeanette ist am 6. November 1924 als Rudolf Schmid in Wallern, heute Volary in Tschechien geboren. Während seine Altersgenossen auf Bäume klettern, spielt Klein-Rudi lieber mit Puppen und verkleidet sich als Mädchen. Er singt gerne und gut. Mit Theaterspiel und Tanzeinlagen unterhält seine Umgebung. Rudi macht eine Lehre als Fotograf und wird knapp 17-jährig 1941 zur Wehrmacht eingezogen und in Italien stationiert. Er entspricht durch sein Aussehen, er ist klein, zartgliedrig und hat kaum Bartwuchs, nicht wirklich dem arischen Recken und bekommt die eine oder andere männliche Avance. Nach einer Typhuserkrankung kehrt er auf Umwegen zu seiner Familie ins Sudetenland zurück, um kurz nach Kriegsende, vor den Repressalien der Tschechen zu fliehen.

In München startet er seine Karriere als Variète-Künstler. Nach wie vor hat Rudolf kaum Bartwuchs und tritt daher als Frau auf. Als Jeanette Baroness Lips von Lipstrill feiert er weltweit Erfolge. Rudolf tritt vor Reza Pahlevi, dem Schah von Persien und seiner Gemahlin Soraya in Teheran auf. Er steht mit Showgrößen wie Frank Sinatra, Édith Piaf, Marlene Dietrich und Josephine Baker auf der Bühne.

1964 unterzieht sich Rudolf in Kairo, wo sie rund 15 Jahre lang gelebt hat, einer Geschlechtsumwandlung und ändert seinen Vornamen in Jeanette. Anschließend übersiedelt sie nach Wien und wohnt nomen est omen – in der Zirkusgasse. Sie tritt als Chansonsängerin vorwiegend in Nachtclubs wie dem Moulin Rouge und dem Cabaret Renz auf. Das Renz ist zu jener Zeit ein wenig anrüchig. Jeanette gelingt es, die alternde Josephine Baker für Auftritte im Renz zu gewinnen. Damit gewinnt auch das Renz (für kurze Zeit) wieder an Reputation.

Als sie Probleme mit ihren Stimmbändern bekommt und das Singen aufgeben muss, verlegt sich Jeanette auf das „Kunstpfeifen“, eine alte Wiener Tradition und feiert damit große Erfolge.

Im Jahr 2004 wird ihr das „Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich“, dessen Erhalt sie mit (angeblich) den Worten „Ich pfeife mich durchs Leben, bis ich tot umfalle” quittiert. Zutrauen würde ich ihr es.

Jeanette Schmid stirbt am 8. März 2005 in Wien an einer schnöden Grippe.

Meine Meinung:

Auf diese, im kleinen niederösterreichischen Verlag Vierviertel erschienene Autobiografie bin ich rein zufällig gestoßen. Doch habe ich mich über dieses Schmankerl sehr gefreut.

Eine interessante Autobiografie einer interessanten Persönlichkeit. Während Transgender heute ein bekannter Begriff ist, gibt es für Menschen wie Rudolf/ Jeanette in der Vergangenheit so gut wie gar kein Verständnis. Sie werden oft als Kuriosität bestaunt. Sie müssen sich verstecken, einige überleben die NS-Zeit nicht und manche gehen zur Tarnung Ehen ein. Auch was in den Menschen vorgeht, wie sie fühlen, wie sie sich selbst sehen, das erfahren wir selten.

Jeanette berichtet in dieser Autobiografie über ihr Leben, das auch anders ausgehen hätte können.

Rudolf hat seit früher Kindheit gewusst, dass er ein wenig anders ist als seine männlichen Spielgefährten. Als Kind war er als Entertainer in Mädchenkleidern bei Festen gerne gesehen. Dass er die Nazi-Zeit unbeschadet überlebt hat, ist nicht geringzuschätzen.

Seine Verwandlung von der Bühnenfigur Jeanette in die reale Frau erfolgt langsam. Auch darüber schreibt sie in ihren Memoiren. Über die Hormonkuren, die sie über sich ergehen hat lassen müssen, die Operationen in Kairo und die höllischen Schmerzen.

Das Buch zu lesen ist, als säße Jeanette mir gegenüber und unterhielte sich mit mir über ihr Leben. Damals, zu Schulschwänzerzeiten haben wir natürlich nur ein bisschen Small Talk gemacht. Schade eigentlich! Aber, was will man mit 15, 16 Jahren schon Tiefschürfendes besprechen?

Angereichert ist das Buch mit einer Vielzahl von privaten Fotos aus ihrem Leben. Die Ankündigungsplakate diverser Varietés zeigen die unterschiedlichen Orte ihrer Auftritte. Das eine oder andere Foto zeigt prominente Persönlichkeiten, die Jeanette gekannt haben.

Fazit:

Ich bin froh, auf Jeanettes Memoiren gestoßen zu sein, und gebe hier gerne 5 Sterne




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