Buchbesprechung/Rezension:

Martin Becker, Tabea Soergel: Die Schatten von Prag
Kischs erster Fall

Die Schatten von Prag
verfasst am 04.11.2024 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Becker, Martin
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
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Das Autoren-Duo Martin Becker & Tabea Soergel entführt uns mit diesem historischen Roman, der Elemente eines Kriminalromans enthält, in das Prag von 1910.

Mit großer Angst blicken die Menschen in Prag und anderswo in diesem Frühling von 1910 auf den Nachthimmel. Nach 75 Jahren ist der Halleysche Komet wieder deutlich sichtbar. Wie immer bei solchen Himmelserscheinungen werden diffuse Ängste geschürt, mit denen skrupellose Geschäftemacher viel Geld machen, allerlei Weltuntergangsszenarien verbreitet und zahlreiche Menschen Selbstmord begehen. Dass ein solche verunsichernde Stimmung auch diverse Verschwörern Raum bietet, ist wohl leicht vorstellbar. Man kann ja keinen fragen, der 1835 den letzten Kometendurchgang beobachtet hat.

Hauptfiguren in diesem historischen Roman sind der reale Reporter Egon Erwin Kisch (1885-1948) sowie die fiktive Lenka Weißbach, die bislang ihrer Mutter zuliebe in Berlin Medizin studiert und nun wieder nach Prag zurückgekehrt ist. 

Kisch arbeitet bei der Bohemia, der zweiten deutschsprachigen Prager Zeitung neben dem renommierten Prager Tagblatt, als Polizeireporter. Das Arbeitsklima in der Zeitung verschlechtert sich durch einige personelle Änderungen. So wird der Chefredakteur durch einen Mann ersetzt, der sich in der Zeitungsbranche kaum auskennt, aber sichtlich gute Beziehungen zu einflussreichen Personen hat.

Gleichzeitig sterben aktuell in Prag zahlreiche Menschen durch Selbstmord, was Kisch nicht so recht glauben mag. Manches sieht wie ein bewusst herbei geführter Suizid aus. Kisch beginnt mit Hilfe von Lenka, die nun ebenfalls in der Redaktion der Bohemia arbeitet, und dem alten Brückenwärter Novák, heimlich zu recherchieren. Lenkas medizinische Kenntnisse sind dabei recht hilfreich und Kischs Verbindungen zur Halb- und Unterwelt legendär, daher erhält er den einen oder anderen Hinweis. 

Schnell wird klar, dass es sich hier um eine Verschwörung riesigen Ausmaßes handeln muss. Nur wer ist der Initiator, wer sind die Mitwirkenden? Der schwerkranke König der Prager Unterwelt Kubitza, der aus dem Gefängnis seine Geschäfte am Laufen hält, oder die Deutschnationalen, die ihre schwindende Macht erhalten wollen, oder doch die tschechischen Nationalisten, die sich vom Joch der Habsburgerreich mit aller Gewalt befreien wollen? Zwischen alle Mühlsteine geraten wieder einmal die Juden, zählt man sie weder zu den Deutschen noch zu den Tschechen.

Um der Sache auf den Grund zu gehen, wagt Egon Erwin Kisch einen gewagten Coup: Er besucht Kubitza im Gefängnis, wenig später ist der Unterweltboss tot.

Meine Meinung: 

Dieser historische Kriminalroman ist Auftakt zu einer Krimi-Reihe mit Egon Erwin Kisch und Lenka Weißbach, die uns in die gespannte Atmosphäre, die wenige Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges herrscht, eintauchen lässt. Sehr geschickt sind die rivalisierenden politische Gruppen, Deutsche und Tschechen, dargestellt. Da ich mit der Geschichte Böhmens und Mährens vertraut bin, ist es mir nicht schwergefallen, den Usurpator ausfindig zu machen, der sich die Angst der Menschen vor dem Kometen zu Nutze gemacht hat. Eine Gruppe von Personen gerät zwischen die Mahlsteine des Machtkampfes: die Juden. Die werden von beiden Seiten angefeindet und für jegliches Übel verantwortlich gemacht. So ist es kaum verwunderlich, dass der erste Tote der Serie, Dr. Leidinger, ein Mitarbeiter der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt Jude ist. 

Die Charaktere haben alle ihre Ecken und Kanten. Zunächst einmal Egon Erich Kisch (1885-1948), dessen Alkoholkonsum schon in jungen Jahren ziemlich bedenklich erscheint und der in späteren Jahren als „rasender Reporter“ bezeichnet wird.

Lenka Weißbach ist eine interessante Figur. Zum einen studiert sie der Mutter zuliebe Medizin wie ihr verstorbener Vater und lebt in Berlin ein doch recht freies Leben, das wie die Andeutungen zeigen, auch eine Liebschaft mit einer Frau beinhaltet und andererseits kehrt sie als „gute Tochter“ nach Prag zurück, als sich herausstellt, dass sich Gesundheitszustand ihrer Mutter verschlechtert. Sie kann ja auch in Prag ihr Medizinstudium fortsetzen. Um den Verheiratungsplänen der Mutter zu entkommen, täuscht sie eine Verlobung mit ihrem Kollegen, dem schüchternen Heinrich Brodesser vor.

Der Charakter der Lenka bietet für weitere Fälle interessante Entwicklungsmöglichkeiten. On verra (Man wird sehen) , wie die Franzosen sagen. Der nächste Band erscheint 2025.  

Gut gefällt mir, wie uns das Autoren-Duo auf die Reise in die Stadt Prag mitnimmt. Da ist vom Brückenzoll die Rede und von einigen bekannten Firmen, die (natürlich) reichen Österreichern gehören sowie die Tausenden Tschechen wie Novák, die in ärmlichen Verhältnissen hausen. Das mag sich vielleicht nach einem Klischee anhören.
 
Einige, damals noch unbekannte Literaten huschen durch die Handlung. So begegnen wir historischen Personen wie Franz Kafka (1883-1924), der damals noch Mitarbeiter der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt und Kollege des ersten (fiktiven) Mordopfers war, sowie Jaroslav Hašek (1883-1923), der in wenigen Jahren, den Roman „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ schreiben wird.  

Fazit:

Ein interessanter historischer Krimi, der die Spaltung des Königreiches durch den aufstrebenden Nationalismus, den latent vorhandenen Antisemitismus sowie die Angst der Menschen vor dem Naturereignis Halleyscher Komet sehr gut erlebbar macht. Gerne gebe ich hier 4 Sterne. 




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