Volker Kutscher: Rath
Der zehnte Rath-Roman
Autorin/Autor: Kutscher, Volker
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Mit dem Jahr 1938 hat sich das Regime in Nazideutschland besser verankert als je zuvor. Die Nazi-Gesellschaftsordnung, die allgegenwärtigen Nazi-Flaggen, die allgegenwärtige Furcht vor einem nächtlichen Klopfen an der Wohnungstüre. Es ist Alltag, das Leben vor der Machtübernahme durch Hitler scheint unendlich weit weg zu sein.
Warum sollte jemand in dieses Land zurückkehren wollen, das er zuvor verlassen hatte, um das eigene Leben zu retten. Für Gereon Rath ist der nahende Tod seines Vaters jedenfalls Grund genug, aus dem sicheren Amerika nach Deutschland zurückzukehren. Es würde ja nur für kurze Zeit sein, danach könnte er mit Charlotte „Charly“, seiner Ehefrau das Land endgültig verlassen.
Es gibt aber viele Hindernisse, die zur Folge haben, dass genau das passiert, was Rath keinesfalls wollte. Der Vater lebt weiter, entgegen aller Prognosen und seine sporadischen Treffen mit Charly verlaufen anders, als er es sich wünsche würde. Die Rückkehr nach Amerika rückt in immer weitere Ferne.
Zudem ist er in einem Staat, in dem die Gestapo und deren Spitzel hinter jeder Ecke lauern können, jederzeit in Gefahr entdeckt zu werden. Denn Gereon Rath wird von seinen alten Feinden noch immer gesucht. Dass er seinen Tod nur vorgetäuscht hatte, blieb diesen Leuten nicht lange verborgen; wird Rath entdeckt, wird er sterben, darüber gibt es keinen Zweifel.
Und es gibt noch etwas, das verhindert, dass Rath und Charly das Land schnell verlassen können: Ihr ehemaliger Ziehsohn Fritze wird beschuldigt, zwei Morde begangen zu haben und ist aus seiner Pflegefamilie geflohen. Fritze versteckt sich und Charly, die immer Kontakt mit ihm gehalten hatte, versucht, ihn zu finden. Dabei wird sie selbst, ohne es zu bemerken, von der Gestapo überwacht und verschwindet eines Tages spurlos.
Dahinter steckt ein alter Feind, der einen perfiden Plan hat: Denn wenn Gereon Rath erfährt, dass Charly in Gefahr ist, wird er dann nicht aus seinem Versteck auftauchen?
Der Alltag in Nazideutschland
Der zehnte Roman der Gereon Rath ist expliziter und brutaler als die bisherigen Romane. In einer Mischung aus Rache und Lügen umkreisen einander die alten Gegner und keine Seite ist bereit, Kompromisse einzugehen. Die Verlogenheit der Nazibonzen, wie sie ihre Macht ausnützen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, sind das eine. Die Frage, wer ehrlich ist und ob alte Freunde und Weggefährten mit offenen Karten spielen, ist die andere. Es ist eine Zeit, in der auch die Gegner der Nazis immer mehr zu Gewalt greifen, deren Methoden übernehmen müssen, um selbst am Leben zu bleiben.
Fünf Jahre sind seit der Machtergreifung vergangen. Die meisten, die damals im Jahr 1933 Hitler und die Nazis nicht unterstützten, haben sich in die neuen Verhältnisse eingefügt. Die Menschen haben sich damit abgefunden, dass sie in einer neuen Zeit leben. Anders zu denken, kann man sich höchstens noch in den eigenen vier Wänden erlauben und selbst das ist keine Garantie, dass die Staatsmacht nichts davon erfährt.
Das alles wird in „Rath“ durchzogen von zwei Verbrechen, die miteinander zu tun haben könnten: die zwei Morde, die man Fritze anhängen möchte und der Tod seiner Freundin Hannah, die auf einem Operationstisch starb; wie sich herausstellt, nachdem ein Arzt ihr eine tödliche Injektion verabreicht hatte.
Viel Lesestoff
Auch wenn man der Handlung dieses Romanes durchaus folgen kann, wenn man erst mit diesem zehnten Band in die Reihe einsteigt, wäre es doch überaus hilfreich, auch schon die verschiedenen Vorgeschichten zu kennen. Denn die Handlungsstränge schließen an Vorhergehendes an, die Verhältnisse der Protagonisten zueinander haben sich in den Vorgänger-Romanen entwickelt. Zudem neigt Volker Kutscher in diesem Buch zu sehr ausführlichen, manchmal ausschweifenden Schilderungen, was hinderlich dabei sein mag, sich einen Überblick zu verschaffen.
Ich muss gestehen, dass ich hin und wieder schnell quergelesen habe, weil ich wissen wollte, wie sich die Handlung weiterentwickelt und nicht noch mehr Informationen über Hintergründe lesen wollte.
Neben der schonungslosen Darstellung des mörderischen Naziregimes verbindet Volker Kutscher die Handlung auch durch die Auftritte historischer Persönlichkeiten gewissermaßen nahtlos mit dem, was 1938 geschah. Konrad Adenauer mit seiner typischen rheinischen Ausdrucksweise, der legendäre Ernst Gennath, der Kriminaldirektor Arthur Nebe sind nur ein paar davon, die persönlich eine Rolle im Buch spielen. Viele andere ziehen im Hintergrund die Fäden und finden so Eingang in das Geschehen.
Apokalyptisches Finale
Es wird ausgiebig gestorben, je näher man dem Ende des Romanes kommt, desto mehr Tote gibt es. Ob dies auch das Ende der Geschichte von Gereon und Charlotte Rath ist, bleibt abzuwarten …
Ein wenig und stellenweise etwas unübersichtlich: „Rath“ kommt nicht ganz an die letzten Romane der Reihe heran, dafür ist für meinen Geschmack zu viel hineingepackt. Wenn es am Ende dann ganz schnell geht, dann passt das auch nicht ganz zu dem langen und detailreichen Aufbau der einzelnen Handlungsstränge.
Bei allem, was mir an diesem Roman nicht ganz so gut gefällt, bleibt am Ende doch eines: Volker Kutscher gelingt es erneut hervorragend, die Atmosphäre in Deutschland am Vorabend des Weltkrieges zu dazuzustellen.
Wie die Nazis immer zügelloser wurden, wie sie beliebig über Leben und Tod entscheiden konnten, wie es war in einem Land zu leben, in dem man der Willkür jederzeit ausgeliefert sein konnte.
Wie es beschrieben ist, wie man es sich beim Lesen vorstellen kann, ist erschreckend – und das macht den Roman in gewisser Weise zu einem überaus anschaulichen Dokument über das Leben in einer menschenverachtenden Diktatur.