Francesca Melandri : Kalte Füße
Autorin/Autor: Melandri, Francesca
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Francesca Melandri, geboren 1964, kennt den Krieg nicht aus eigener Erfahrung. Ihr Vater kannte ihn, wurde von Mussolini nach Russland geschickt, um den Heldentod zu sterben und kam wie durch ein Wunder zurück. Dort, wo er an der Seite der Nazis kämpfen musste, ist die Ukraine.
Von ihrem Vater könnte Francesca erfahren, was Krieg bedeutet, aber er lebt nicht mehr, niemand aus ihrer Familie, der damals lebte, ist noch am Leben. Ihre Lebenserfahrungen sind verloren, aber die Orte, an denen damals gestorben wurde, gibt es noch und es sind dieselben wie heute: Odessa, Kiew, Mariupol, Kursk, Charkiw, unzählige andere, weniger bekannte. Man nehme ein Geschichtsbuch und wird sie alle als Orte von Schlachten vorfinden, in denen zu hunderttausenden gestorben wurde. Heute wird dort wieder gestorben, zu zehntausenden. Nur der Name des Wahnsinnigen, der das befahl, ist ein anderer: damals Hitler und Mussolini, heute Putin.
Aus den Geschichten, die ihr Vater erzählte, aus dem Buch, das er über diese Zeit des Grauens schrieb, dem, was man in der Familie erfuhr und dem, was man über Mussolinis Kriegsgeilheit und das, was im Winter 1942 in Russland geschah, baut Melandri eine historische Brücke zwischen damals und heute.
Ein Video zeigt zwei ukrainische Soldaten, die einen Schützengraben um Bachmut ausheben und dabei mit dem Spaten auf Skelettteile stoßen […]. Ein namenloser Soldat deines Krieges, Papa.
S. 66
Kritische Geschichtsbetrachtung?
Indem Melandri die Geschichte ihres Vaters rekonstruiert, enthüllt sie zugleich auch jenes verfälschte Bild, das Italien von sich selbst hat. Eine Nation, die sich nie von der Zeit des Faschismus distanziert hat, in der nie eine Aufarbeitung stattfand. Als ob Mussolini und die Millionen, die ihm zujubelten, in einer anderen Dimension gelebt hätten.
Es gibt wohl kaum einen stärkeren Beweis für diese Nicht-Distanz, als das, was im April 2022 geschah. Da beschloss das Parlament in Rom ein Gesetz, mit dem der 26. Jänner zu einem Gedenktag für die heldenhaften italienischen Soldaten an der Ostfront im 2. Weltkrieg gemacht wurde, denn die hätten dort nationale Interessen Italiens vertreten! In einem Angriffskrieg an der Seite der Nazis! Kaum zu glauben … (Was für einen riesigen Aufschrei würde es geben, würde ein solches Gesetz in Österreich oder Deutschland beschlossen?). Im Geburtsland des Faschismus ist so etwa heutzutage noch möglich und niemand stört sich daran.
So nahe war Krieg uns viele Jahrzehnte lang nicht, Krieg, das war immer sehr weit weg uns berührte unsere Welt nicht. Jetzt aber, nur wenige Ländergrenzen entfernt, findet eine Invasion statt. In den 1930ern kamen die Mörder aus dem Osten, in den 1940ern aus dem Westen, im Jahr 2014 kamen sie wieder aus dem Osten. Die Ukraine findet sich immer wieder im Zentrum von Gewalt, von Stalin über Hitler bis Putin glaubt und glauben wahnsinnige Diktatoren, dass es ihnen zusteht, das Land in Besitz zu nehmen.
Ein fiktiver Dialog der Tochter mit dem Vater: Über die Fragen, die er nicht beantwortete, über die Ereignisse, von denen er nicht erzählte, über den Mann, der er glaubte zu sein und den Mann, der er wirklich war. In diesem Dialog zeigen sich die Parallelen zwischen damals und heute, zwischen Mussolini-Italien und Putin-Russland. Der Wahn der Diktatoren, die ohne mit de Wimper zu zucken, Menschen in den Tod schicken und diese Gemetzel dann auch noch zu eigenen Propaganda nutzen.
So ergibt sich ein Bild der sich wiederholenden Geschichte. Immer finden sich welche, die mit Hurra einem Demagogen folgen und immer wieder ist die Ukraine und sind sie Menschen der Ukraine die Opfer.
Putins Propagandisten in Europa
Zu lesen ist eine Anklage gegen Relativierer, die unentwegt angebliche Begründungen dafür finden, warum Putin die Ukraine quasi überfallen musste. Warum der Westen Schuld wäre. Francesca Melandri meint damit nicht nur Leute wie Orban oder Parteien wie AfD, FPÖ, BSW, sie meint die Pseudoexperten, die sich mit ihrer verlogenen Expertise auf die Seite eines Massenmörders stellen. Frei von Schuld ist niemand, doch was sich viele dieser Relativierer an Whataboutismis erlaubten, um die Brutalität der russischen Armee, angeleitet von deren Befehlshaber schönzureden ist obszön.
Und noch etwas anderes macht mir dieses Buch bewusst: nach drei Jahren und anderen Katastrophen an allen möglichen Schauplätzen auf der Welt, wird der Krieg in der Ukraine mehr und mehr zu einem steten Hintergrundgeräusch, das man immer weniger wahrnimmt. Doch weniger wird es nur für uns. Für die Menschen in der Ukraine ist es aber wie am ersten Tag ein permanenter Kampf um das Überleben. Und für die Soldaten Putins ist es wie am ersten Tag ein Sterben für das Ego eines Diktators, der gemütlich in seinem Palast sitzt.
Es gäbe noch über vieles weitere etwas zu sagen, womit mich dieses Buch beeindruckt, Francesca Melandri schafft so viel klare Einblicke und beschreibt so aufwühlende Details. Das würde aber dann den Rahmen einer Buchbesprechung wirklich sprengen.
„Kalte Füße“ ist ein Buch, das sich als unerwartetes Literatur-Schwergewicht herausstellt. Aus der Reihe der rund um den Überfall auf die Ukraine erschienen Büchern hebt es sich hervor, weil darin überzeugend Weltgeschichte und persönliches Erleben miteinander verknüpft sind. Ein eindrucksvolles Buch über gestern und heute: wie leicht sich das Vergangene umdeuten lässt und wie wenig das Vergangene eine Lehre für die Gegenwart sein kann. Italien mit seinen Postfaschisten (die aber zumindest nicht so putinhörig sind wie andere), die Rechtsextremisten überall in Europa, die wie hypnotisiert über die Verbrechen Putins hinwegsehen.
PS: Wer weiß, vielleicht gibt es nach Assad in Syrien auch bald weitere blutrünstige Diktatoren auf der Flucht? Wäre es Putin, wäre es ein Gewinn für die ganze Welt.