Andrea Frediani: Endstation Hoffnung
Autorin/Autor: Frediani, Andrea
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
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Kann sich ein Einzelner gegen ein ganzes System behaupten? Konnte sich ein Einzelner unter der Naziherrschaft gegen die Unmenschlichkeit wehren? Wie kann jemand freiwillig in einen Zug steigen, mit dem Juden aus Ungarn nach Auschwitz transportiert werden?
Der Geschichtsprofessor Isaia Maylaender kann seine Eltern nicht ihrem Schicksal überlassen. Als die beiden in ein Durchgangslager in Ungarn verschleppt werden, verlässt er freiwillig das sichere Italien und folgt ihnen. Er wird schnell erkennen, dann es keine Hilfe gibt, dass er Mutter und Vater nicht schützen kann, wenn sie einmal in den Händen der SS sind.
Die schier endlose Fahrt nach Polen, eingepfercht in einen Viehwaggon, beraubt ihn jeder Hoffnung. Als er von seinen Eltern auf der Rampe von Auschwitz getrennt wird, erkennt Isaia, welchen Fehler er begangen hat.
Überwältigende Eindrücke
Niemand kann so vermessen sein, begreifen zu wollen, was die Menschen, die in Auschwitz wie die Tiere aus den Zügen getrieben wurden, empfanden. Die Ängste, die Ungewissheit, die Hoffnungslosigkeit.
Wie Isaia darüber berichtet, was er sieht, was er nicht versteht, welche Fragen er sich stellt, die ihm niemand beantworten kann, das ist überwältigend. Es ist wie ein Bericht direkt aus dem Konzentrationslager, den ein Mensch verfasst, der alles das soeben erleben muss – ein Bericht, der so nahe wie es eben nur geht, an das persönliche Empfinden eines Betroffenen heranreicht, gerade so weit, dass man beim Lesen einen Teil des Entsetzens selbst verspüren kann.
Was sich für Isaia Stück für Stück als die undenkbare Wahrheit über Auschwitz herausstellt, das gibt aber einen Einblick darin, wie ein Mensch seine Selbstbestimmtheit verliert und den Verbrechern ausgeliefert ist. Er muss lernen, dass er alles hinter sich lassen muss, was eine menschliche Existenz ausmacht. Maßstäbe, die in der Freiheit selbstverständlich sind, gelten hier nicht. Jeder Moment ist verbunden mit der Hoffnung, dass er das schlimmste schon erlebt hat, und jeder weitere Moment zeigt, dass immer noch eine größere Grausamkeit folgen kann.
Seine Zuteilung zum Sonderkommando rettet zwar für den Moment sein Leben, macht es aber auch zu einer Höllenfahrt. Die verängstigen Menschen zu den Gaskammern bringen, ihre Habseligkeiten einsammeln und die Toten dann ins Krematorium transportieren: wer von uns heute Lebenden könnte sich auch nur einen Bruchteil dieses Horrors vorstellen.
Nicht nur die Brutalität der Nazis ist erschreckend, es ist auch die Beschreibung des Verlustes jeder Rücksichtnahme der Lagerinsassen untereinander, wenn es um das nackte Überleben geht.
Ein zweigeteilter Roman
Im ersten Teil ist man als entsetzter Beobachter mit dabei, wie Isaia in die Hölle des Konzentrationslagers gestoßen wird. Der zweite Teil entsteht daraus, dass Isaia durch Zufall in die Nähe des SS-Hauptsturmführers Bodo Hillgruber kommt. Hillgruber hat bei seinen Einsätzen in Russland alle Bücher beschlagnahmt, deren er habhaft werden konnte. Für einen SS-Mann erscheint er ungewohnt reflektiert und gebildet. Isaia sieht seine Chance und bietet sich Hillgruber als Bibliothekar an. Es entsteht ein Plan, der schnell umgesetzt wird und die Bibliothek wird zu einem Ort, in dem zumindest einige der im Lager tätigen Deutschen einen Blick auf die Welt, abseits von Rassenhass und Gewalt werfen können.
Es ist eine neue Aufgabe, die Isaia die Hoffnung gibt, noch länger zu überleben. Daraus formuliert Isaia sein eigenes Ziel: so lange am Leben zu bleiben, um nach dem Ende der Naziherrschaft der Welt von den Verbrechen in Auschwitz zu berichten.
Nun wird der Zeitraum bedeutsam, in dem die Handlung angesiedelt ist. Es ist das Jahr 1944, die russischen Armeen sind auf dem Vormarsch, die Alliierten sind in der Normandie gelandet, die Verbündeten Nazideutschlands wechseln auf die Seite der Alliierten, als die kommende Niederlage der Nazis deutlich wird.
Hillgruber, über dessen Aktivitäten in Russland Isaia zunächst noch nichts weiß, erkennt auch selbst, dass der Zusammenbruch des Nazisystems unausweichlich ist. Er fasst den Entschluss, für die Zeit danach seine Memoiren zu verfassen, in denen er, wie so viele andere, seine eigene Rolle beschönigt und umdichtet. In Isaia meint er den geeigneten Helfer gefunden zu haben, der diese Memoiren niederschreibt.
Die Verlogenheit der Nazis
Es entwickelt sich seine gegenseitige Abhängigkeit von SS-Mann und Geschichtsprofessor. Für beide ist, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise, das eigene Überleben und die eigene Zukunft vom anderen abhängig. Für Isaia, wenn er das KZ überleben will und für Hillgruber, wenn er in der Welt nach den Nazis einen Platz finden soll.
Wenn Isaia mit dem Hauptsturmführer dessen Biografie verfasst, macht Andrea Frediani deutlich, wie sehr sich die Nazis bewusst waren, dass sie unglaubliche Verbrechen begehen. Die Memoiren sind nur ein Beispiel von vielen, mit denen Nazis ihre Rolle kleinreden wollten und sich damit rechtfertigen wollten, doch nur Befehlen gefolgt zu sein.
In den Gesprächen zwischen den beiden wird die völlige Absurdität und Verlogenheit des Antisemitismus und seiner Protagonisten mehr als sichtbar. Hillgruber wiederholt das, was ihm Propaganda und Ideologiewahn ins Gehirn gepflanzt haben, während der Professor ihm jede einzelne seiner eingelernten Phrasen und angeblichen Tatsachen widerlegen kann.
Doch wann haben Fakten jemals diejenigen überzeugen können, die in ihren extremistischen Gedanken gefangen sind? So kann Hillgruber immer wieder nur das wiederholen, was ihm an Lügen eingetrichtert wurde.
Noch ein Buch über den Holocaust?
Wieso sollte man schon wieder ein Buch über den Holocaust lesen? Ist denn nicht schon alles gesagt, alles aufgedeckt?
Wenn man „Endstation Hoffnung“ gelesen hat, wird man verstehen: Es geht darum, niemals zu vergessen, welche Verbrechen Menschen begehen können, wenn wahnsinnige Demagogen die Massen an sich ziehen und wenn alles an Menschlichkeit von denen abfällt, die solchen Demagogen folgen. (Heutzutage geht es darum, alles daran zusetzen und daran mitzuwirken, dass sich das, was in Nazideutschland geschah, niemals, nicht einmal in Ansätzen wiederholt. Keine einfache Aufgabe im 21. Jahrhundert)
Ein intensiver, überwältigender Roman, der zwar fiktive Ereignisse und Personen beschreibt, zugleich aber ein grausam realistisches Bild der Naziherrschaft zeigt.