Buchbesprechung/Rezension:

Sebastian Barry: Jenseits aller Zeit

Jenseits aller Zeit
verfasst am 07.03.2025 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Barry, Sebastian
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
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Wie sehr verändert es einen selbst? Wenn einer, der sein Leben lang Kriminalbeamter war und so nahe an Verbrechen, Verbrechern und Opfern war, wer so viel gesehen hat, wie es andere niemals – was für ein Mensch ist aus ihm geworden, wenn er nach Jahrzehnten in den Ruhestand geht?

Tom Kettle hat vier Jahrzehnte Polizeiarbeit hinter sich. Aber hat er alles geklärt oder ist etwas geblieben, das noch geklärt werden muss?

Er hat sich in eine kleine Wohnung an der Ostküste Irlands zurückgezogen, blickt aufs Meer, meidet aber die Begegnung mit anderen Menschen. Seine Zeit verbringt er alleine, aus seinem früheren Leben ist ihm niemand geblieben, seine Frau, seine Tochter, sein Sohn –  sie sind alle tot.

Im Ruhestand ist er erst seit ein paar Monaten. In seinem neuen Heim findet er Zeit, Abstand zu gewinnen, die Unaufgeregtheit zu genießen. In dieser Einsamkeit werden aber auch die Erinnerungen an seine Familie lebendig, sie existieren in seinen Gedanken, als wären sie nur kurz abgereist und kämen irgendwann zurück.

Seine Erinnerungen, seine Einsamkeit  – immer näher kommt Tom an den Punkt, an dem er sich fragen muss, was sein Leben ihm noch bieten kann. In dem Moment, in dem er zum Schluss kommt, dass es sich für ihn nicht mehr lohnt, dieses Leben weiterzuleben, wird aus einem Klopfen an seiner Haustüre so etwas wie der Startschuss für einen neuen Sinn.

Der Roman beginnt behutsam, voller Gedanken und Eindrücke, Vergangenes, das Toms Leben bestimmt. Als zwei ehemalige Kollegen vor seiner Tür stehen und ihn um seine Unterstützung in einem alten, ungelösten Fall bitten. Aber erst als auch noch sein früherer Vorgesetzter wenig später vorbeikommt, erfasst Tom eine lange nicht mehr gekannte Energie. Aufgeregt, als würde er zu einer Prüfung eingeladen worden, bereitet er sich darauf vor, in seine alte Arbeitsstätte zu fahren.

Als Tom bereit ist, seinen Rat in die Ermittlung einzubringen, wird klar, dass sein eigenes Leben damit verknüpft ist. Der Missbrauch in der Kirche ist längst nicht vorbei und auch nicht, dass sich Leute mit Einfluss finden, die das unter die Decke kehren wollen. Für Tom Kettle umso persönlicher wird es, als er erfährt, dass es um einen nur allzu bekannten Name geht.

Schritt für Schritt erfährt man aus Toms Gedanken, was ihm und June, seiner Frau, seiner Lebensliebe, in ihrer Kindheit widerfahren war. Wie sie als Waisen in die Obhut der Kirche kamen, er bei den Mönchen, sie bei den Nonnen. Was aber sollte das Wort „in die Obhut“ bedeuten, sollte es nicht vielmehr „in die Gewalt“ heißen?

Die Erniedrigung und der Missbrauch, die beide über sich ergehen lassen mussten, diese scheinheilige Welt, die nichts tat, um Leid zu lindern, um Übergriffe zu verhindern, sondern beide, genauso wie hunderte andere Kinder in Irland, auch noch selbst dafür verantwortlich machte, dass ihnen alles dies angetan wurde. (Der hier literarisch verarbeitete Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche Irlands ging noch weit über das hinaus, was aus anderen Ländern bekannt wurde).

Sebastian Barry erzählt seine Geschichten unglaublich dicht und intensiv; das ist in allen seinen Romanen, die ich bisher gelesen habe, so und in diesem nicht anders. Er zieht immer wieder historische Vorgänge als Rahmen für seine Erzählungen heran und lässt seine Leserinnen und Leser begreifen, was es bedeutete, selbst darin gefangen zu sein.

Wie kann man Missbrauch verstehen, wenn man so etwas selbst nie erleben musste? Wie kann man die Folgen derartiger Übergriffe und stetiger Unterdrückung verstehen, wenn man selbst als Kind so etwas nie erfahren hat? Gänzlich gelingen kann beides nie, aber Sebastian Barry führt einen etwas näher an die Gefühlswelt Betroffener heran, als man es alleine vermag. Versteht man auch nur einen Bruchteil davon, was das aus einem Menschen machen kann, so versteht man doch eines: Es lässt einen niemals los.

Für Tom Kettle bedeutet seine eigene Erfahrung, dass er beim Anblick von Kindern ein Stück in sein eigenes Trauma zurückversetzt wird, seine eigene Angst projiziert er auf die Kinder und das, was ihnen angetan werden könnte. Weil Tom Kettle eben genau weiß, es viel zu viele gab und gibt, deren Leben von jenen zerstört wurde, die doch eigentlich für sie sorgen sollten.

Das Original „Old God’s Time“ stand auf der Longlist des Booker Prize 2023.

Ein fesselnder und außerordentlich bewegender Roman, von der ersten bis zur letzten Zeile.




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