Buchbesprechung/Rezension:

Philippe Sands: Die Verschwundenen von Londres 38
Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien

Die Verschwundenen von Londres 38
verfasst am 23.04.2025 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Sands, Philippe
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Eine Spur der Menschenverachtung und der Gewalt zieht sich von Nazideutschland in die Welt. In seinem 2020 erschienenen Buch „Die Rattenlinie“ beschreibt Philippe Sands am Beispiel des Nazis und Kriegsverbrechers Otto Wächter die Organisation der Flucht vieler Nazis. Viel zu viele dieser Massenmörder konnten entkommen und mussten sich niemals für ihre Taten verantworten.

Ein oft gewähltes Ziel der Flucht war Südamerika, wo die „Kenntnisse“ der Nazis in Bezug auf Folter und Unterdrückung in den Militärdiktaturen höchst geschätzt wurden.

Philippe Sands war als international tätiger und renommierter Menschenrechtsanwalt in die Verhaftung des früheren chilenischen Diktators Augusto Pinochet involviert. Wie Sands im Vorwort zu diesem Buch schreibt, stieß er einige Jahre nach London bei den Recherchen zu „Rattenlinie“ auf den Namen Walther Rauff. Einer jener Nazis, denen es gelungen war, weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden, obwohl er für den die Ermordung zehntausender verantwortlich war: Walther Rauff war der Organisator der mobilen Gaskammern. Das waren jenen LKWs, in denen Menschen durch Einleitung der Abgase ermordet wurden, bevor die Nazis die Gaskammern bauten.

Im Zug weiterer Nachforschungen wurden direkten Verbindungen zwischen Pinochet und Rauff und in weitere Folge zur Sekte Colonia Dignidad sichtbar.

Es war der Beginn einer ungemein aufwändigen und umfangreichen Arbeit, die Philippe Sands nach Chile zu den Orten führte, an denen Rauff lebte und arbeitete, zu den Menschen, die Rauff gekannt hatten und zu den Stätten, an denen Rauff für die Pinochet-Diktatur unzählige Menschen gefoltert haben sollte. Dies zu beweisen hatte Sands sich zur Aufgabe gemacht, sowie den Nachweis zu führen, dass Rauff und Pinochet einander gekannt hatten.

Das Buch selbst teilt sich in zwei parallel laufende Erzählungen. Zum einen die juristischen Vorgänge rund um die Verhaftung Pinochets im Oktober 1988 und zum anderen die Nachzeichnung des Lebens von Rauff, seine Stationen und Tätigkeiten in Chile.

Als Anwalt und Schriftstellen kann Sands die überaus komplexen Details und Gegensätze zwischen nationalem und internationalem Recht, über die Möglichkeiten, ehemaligen Staatschefs für ihre verbrecherischen Taten zur Verantwortung zu ziehen und über die daraus entstehende politischen Verwicklungen nicht nur verstehen, sondern auch sehr anschaulich beschreiben. Pinochet verbrachte einige Monate in London im Hausarrest, während seine Anwälte auf der einen Seite und die juristischen Vertreter von Menschenrechtsorganisationen und Staaten auf der anderen immer wieder neue Wege beschritten. Die einem argumentierten mit der Immunität Pinochets, die anderen damit, dass die Strafverfolgung von Folter und Mord eben nicht durch irgendeine Immunität verhindert werden kann.

Am Ende geschah in der Affäre Pinochet das, was viel zu oft bei Verfahren von öffentlichem Interesse gegen Personen geschieht: Irgendein Mediziner bescheinigt Prozessunfähigkeit, womit Verbrecher jeglicher Verurteilung entkommen. Pinochet konnte im Jänner 2000 unbehelligt nach Chile ausreisen, wo er – man möchte sagen: wie zu erwarten – keines der Krankheitssymptome mehr zeige, die es ihm ermöglicht hatten, einem Prozess zu entkommen.

Für den Teil des Buches, in dem es um Walther Rauff geht, ist weniger Sands‘ Expertise als Anwalt erforderlich, sondern seine Ausdauer und Hartnäckigkeit als Detektiv. Den Spuren eines Mannes zu folgen, der bedacht darauf war, keine Spuren zu hinterlassen, erwies sich als überaus aufwändig und wegen der seither vergangen Zeit (Rauff starb im Jahr 1984) oft auch als vergeblich.

Am Ende aber ergaben sich deutliche Hinweise darauf, dass Rauff einer der bestimmenden Akteure im Folterzentrum von Pinochets Geheimpolizei in Santiago, das nach seiner Adresse nur   Londres 38 genannt wird (und an anderen Orten) war. Rauffs Erfahrungen bei Folter und dem Verschwinden lassen von Menschen wurden gerne genutzt. Was in Nazideutschland geschah, passierte auch in Chile unter Pinochet: LKWs, in den Menschen abtransportiert wurden, ein Konzentrationslager nach dem Vorbild der Nazis-KZ, die völlige Vernichtung von Gegners.

Verantwortung für Verbrechen?

Aktualität haben diese Vorgänge, da es gegenwärtig Haftbefehle gegen zwei amtierenden Staatsoberhäupter bzw. Regierungschefs gibt. Benjamin Netanjahu und Wladimir Putin könnten, sollten demnach bei der Einreise in ein Land, das dem internationalen Gerichtshof angehört, verhaftet und ausgeliefert werden. Nun, dass das bis jetzt nicht geschehen ist, verwundert nicht. Zum einen vermeiden diese Leute es in Länder zu reisen, in denen sie tatsächlich festgenommen werden könnten, zum anderen haben Kriegsverbrecher und Diktatoren immer und zu jeder Zeit Freunde auf der Welt (wie zuletzt Netanjahus Besuch bei Viktor Orban zeigt).

Auch die Vorgänge rund um Pinochet sorgten damals für Unverständnis. Wenn es denn eindeutig zu sein scheint, dass jemand Verbrechen befohlen hat, wieso ist es dann möglich, durch juristische Taktik diese Person am Ende straffrei ausgeht? o ist eben unser demokratisches Rechtssystem: Es lässt sich umgehen. 

Sieht man sich das aber aus einer anderen Perspektive an, so wird damit auch verhindert, dass willkürliche Urteile gefällt werden. Was geschieht, wenn diese Mechanismen versagen oder ausgeschaltet werden, sieht man 0beispielsweise in Russland oder der Türkei. Nur zwei viel zu vielen Staaten, in denen Anklagen erfunden werden, um Gegner auszuschalten und in denen korrupte Richter nur mehr Erfüllungsgehilfen von Machthabern sind. Mehr oder weniger als auch das, was unter Pinochet in Chile geschah.

Philippe Sands beschriebt in diesem Buch eine mit enorm viel Aufwand betriebene Recherche und er erklärt das internationale Rechtssystem: Ein packender Justizthriller und die Biografie eines Naziverbrechers, der sich seiner Verantwortung entziehen konnte.

Sands Bücher haben meiste Vorgänge als Thema, die im Schatten der großen historischen Ereignisse stehen. Indem er damit das aufdeckt und erklärt, was gewissermaßen den Unterbau darstellt, ohne den es Nazideutschland oder die Pinochet-Diktatur nicht gegeben hätte, macht Sands auch verständlich, wir Staaten wie Russland oder China heutzutage funktionieren.

Es sind eben nicht nur die berüchtigten und berühmten Namen, die in den Geschichtsbüchern stehen; ohne die zahllosen namenlosen Mörder und Folterer, die das mit Fanatismus ausführen, was ihre Anführer vorgeben, gäbe es auch keine Diktaturen.




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